Erst durch meine eigene Schwangerschaft habe ich meine Position zur Abtreibung geändert. Bevor ich ungewollt schwanger wurde, dachte ich, dass einer wie mir das nicht passieren würde, dass ich nicht abtreiben würde. Ich will meine Erfahrung teilen, um für Verständnis zu werben. Vielleicht denkt der eine oder die andere über ihre Einstellung nach.
Ich war zu Besuch in einer fremden Stadt und schlief in einer Wohngemeinschaft von Freunden, in der ich einen jungen Mann kennenlernte. Es war mein letzter Abend und wir kifften. Wir unterhielten uns gut. Ich mochte ihn. Und dann dachte ich mir, es sei absurd, in das andere Zimmer zu gehen und legte mich in sein Bett. Ich war eigentlich todmüde und wollte nur kuscheln. Doch als er ins Zimmer kam, fingen wir an, uns zu küssen. Ich war stark zu ihm hingezogen und dann wollte ich mehr.
Eigentlich hatte ich aufgehört zu kiffen.
Als wir darüber redeten, wie sehr wir Alkohol hassten und er sagte: „Dafür kiffe ich manchmal ganz gerne einen“, hatte ich schon „ich auch“ gesagt. Warum? Weil ich meine Grenzen ignorierte. Weil ich sie ignorieren wollte. Ich habe gekifft, obwohl ich eigentlich damit aufgehört hatte, weil der Typ so nett war. Weil ich die Jobabsage bekommen hatte, weil es regnete, weil sowieso schon alles egal war. Ich tat es, weil ich nicht so viel nachdenken wollte, weil das so anstrengend ist. Ich kiffte mehr, als ich vertrage. Und das mit dem Mann, den ich gerade kennengelernt hatte. Natürlich ist es verrückt, das zu sagen, aber ja: ich war verliebt.
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Verliebt in sechs Stunden
Der Mann erinnerte mich an Menschen, die für mich eine wichtige Rolle im Leben spielten. Die aber nicht mehr da waren, oder von denen ich mir vielleicht gewünscht hätte, dass sie andere Rollen übernehmen, als sie es taten. Natürlich gehören zwei Menschen zum schwanger werden. Natürlich hat mich der Typ an dem Abend verführt. Doch was bringt es mir, ihn verantwortlich zu machen? Wer keine klaren Grenzen zieht, kann sie danach schlecht einfordern.
Als er das Kondom abzog, wollte ich eigentlich keinen Sex mehr. Ich war noch viel müder und wollte nur noch schlafen.
Als wir miteinander schliefen, dachte ich, er sei noch nicht gekommen und als er ohne Gummi in mich hinein glitt, dachte ich nur, dass es so „vielleicht schneller gehen würde“. Warum waren mir seine Bedürfnisse wichtiger als meine Grenzen? Warum war ich zu scheu, ihn zu fragen, ob er gekommen war und wie er sich das weiter vorstellte? Warum sagte ich nur leise: „Das ist ganz schön viel Vertrauen für die erste Nacht“. Ich genoss die Nähe und vergaß meine Sorgen. Wo sollte ich leben? Was arbeiten? Wie lange sollte ich für meinen Traumberuf noch durch Deutschland touren, an Assessment Center und Vorstellungsmarathons teilnehmen? Ich schaltete ab und ließ mich fallen.
Weder in der Nacht noch am nächsten Tag redeten wir über die Art und Weise, wie wir verhütet hatten, beziehungsweise, wie wir nicht verhütet hatten. Ich dachte eigentlich, dass er nicht ohne Kondom in mir gekommen ist. Vor seinem Orgasmus hatte er den Penis rausgezogen, kurz onaniert und dann auf meinem Bauch abgespritzt. Ich war froh, dass er endlich gekommen war. Am Morgen wurde ich neben ihm wach, schaute ihn lange an und war fasziniert von seinem guten Aussehen. Er hatte mir erzählt, dass er neben seinem Studium als Modell arbeitete. Ich war 25 Jahre alt und hatte bis dahin nie etwas an einem Mann gefunden, der wohl jünger als ich war.
Er stand auf, um ins Fitnessstudio zu gehen. Er fragte mich nicht nach meiner Nummer, gab mir aber einen Kuss auf die Wange und ging. Bevor ich sein Zimmer verließ, suchte ich nach einem Stück Papier und einem Stift, um meine Nummer zu hinterlassen. Dabei fiel mein Blick auf seinen Impfpass und ich sah, dass er fünf Jahre jünger als ich war.
Wie gewonnen, so zerronnen
Mit einem Ich-könnte-mich-verlieben-Gefühl machte ich mich auf den Weg nach Brüssel, wo ich für zwei Wochen eine Freundin besuchte. Ich dachte nicht einmal daran, die Pille danach zu nehmen. Er meldete sich bald per Whatsapp bei mir. Wir chatteten fast täglich und verabredeten, uns noch einmal zu treffen, wenn ich aus Brüssel zurück in meine Stadt fahren würde. Doch als der Tag der Abreise näher rückte, meldete er sich plötzlich nicht mehr. Ich hatte sofort ein schlechtes Gefühl. Trotzdem plante ich meine Fahrt mit einem sechsstündigen Aufenthalt in seiner Stadt.
Ich wusste ja, wo er wohnte und wollte ihn zur Rede stellen. Doch er war nicht da und ging auch nicht an sein Handy. Als ich ihn von der Nummer seines Mitbewohners anrief, nahm er doch ab. „Ich bin den ganzen Tag in der Uni und habe keine Zeit“, sagte er kurz angebunden und wollte schon wieder auflegen, doch ich konnte ihm noch sagen, dass ich sein Verhalten „richtig scheiße“ finde. Ich ließ meinen großen Rucksack in der WG und sein Mitbewohner nahm mich mit auf ein Konzert.
Ich schwor mir, nicht weiter an den Typen zu denken.
Am Abend holte ich den Rucksack und hörte laute Musik aus dem Zimmer, in dem ich die Nacht vor zwei Wochen verbracht hatte. Ich klopfte zwei Mal an. Nach dem dritten Mal hörte ich ein „Ja?“. Ich machte die Tür auf und sah zuerst sie, dann ihn. Sie saß Oberkörper frei auf seinem Bett, mit dem Rücken zu mir, auf welchem ihre langen blonden Haare ruhten. Er lag, ebenfalls nackt, hinter ihr und schaute mich gelassen an. Ich stockte und wusste nicht, was ich sagen sollte. Dann hörte ich mich „Ciao“ sagen, sah mich rückwärts aus dem Zimmer gehen, schloss die Tür, verließ die Wohnung und eilte zum Bahnhof. Ich weinte kurz und schwor mir dann, nicht weiter an den Typen zu denken. Sofort blockierte ich seine Nummer, löschte sie aber nicht.
Verdrängung ist keine Lösung
In den darauffolgenden Tagen traf ich viele Freunde. Manchen erzählte ich von meiner Begegnung mit „dem Modell“, wie ich den Kerl nur noch abwertend nannte. Im Allgemeinen gelang es mir gut, dieser kurzen Romanze nicht hinterher zu trauern. Doch bald beschlich mich ein unangenehmer Gedanke, der von Tag zu Tag größer wurde.
Als meine Periode drei Tage überfällig war, fing ich an zu Googeln, ab wann ein Schwangerschaftstest ein sicheres Ergebnis liefert. Am Morgen des vierten Tages meiner Zweifel ging ich in eine Apotheke und kaufte einen Früh-Erkennungstest. In der Nacht hatte ich bei Freunden geschlafen, denen ich beim Umzug geholfen hatte. Das Badezimmer war noch nicht eingeräumt, weiß gestrichen und sehr steril. Ich sehe dieses weiße Stäbchen mit den zwei Strichen wieder klar vor mir. Ich schüttelte es. Atmete tief durch. Legte es noch einmal auf den Waschbeckenrand und hoffe, der eine Strich würde durch ein Wunder wieder verschwinden. Ich stand barfuß auf den weißen Badezimmerfliesen und es fröstelte mich. Der Strich verschwand nicht. Ich sagte zu mir selbst: „Jetzt bloß nicht durchdrehen, nur die Nerven behalten“. Ich stieg in die Dusche und meine Verzweiflung brach aus mir raus. Ich heulte, als würde es kein Morgen geben. Als ich aus der Dusche kam, waren die zwei Striche noch immer auf dem Stäbchen. Die bittere Gewissheit über meine Vermutung, die Strafe für eine unvernünftige Nacht.
Ich suchte die nächste Frauenärztin auf. Die Ärztin untersuchte mich und obwohl sie gesehen haben musste, dass ich geweint hatte und verzweifelt war, sagte sie „Herzlichen Glückwunsch!“. Ich sagte, dass es nicht gewollt sei und ich mich über die Möglichkeit eines Schwangerschaftsabbruchs informieren wolle. Sie entgegnete, dass ich mich dafür an pro familia wenden müsste und das meine Schwangerschaft in diesem „frühen Stadium nicht abgetrieben werden kann“. Mir kamen die Tränen, aber ich beschloss, keine weiteren Fragen zu stellen. Diese Ärztin war nicht die richtige Ansprechpartnerin, das hatte ich sofort gespürt.
Ich habe gelernt, die eigenen Grenzen nicht zu ignorieren.
Ich habe abgetrieben. Weil ich meinem Kind nicht erzählen wollte, dass ich jung und unerfahren war. Dass ich in der Nacht einem Mann vertraut habe, dem ich eigentlich nicht hätte vertrauen sollen. Ich entschuldige mich bei mir selbst. Ich habe gelernt, die eigenen Grenzen nicht zu ignorieren. Denn wenn man das macht, tut es danach lange weh. Es ist absolut nicht einfach, sich nach einer Grenzüberschreitung selbst zu verzeihen. Und entschuldigen ist das eine, Verzeihen das andere. Man sollte Situationen bewusst vermeiden, von denen man schon vorher ahnt, dass man später etwas bereuen wird, aber dafür muss man seine eigenen Grenzen kennen. Das ist nicht einfach. Weil das Leben schwer ist. Weil wir Fehler machen.
Eine Entscheidung fürs Leben
Schon in dem Moment, in dem ich den Schwangerschaftstest kaufte, wusste ich, dass ich in der Situation, in der ich mich befand, kein Kind bekommen wollte. Früher hatte ich mir oft gesagt, wenn ich ungewollt schwanger würde, könnte ich das Kind „einfach“ zur Adoption frei geben. Das kam für mich jetzt auf keinen Fall mehr infrage. Ich war nicht nur nicht bereit für ein Kind, ich war auch nicht bereit für eine Schwangerschaft. Ich wollte meinen Körper nicht teilen.
Ich hatte zwei Jahre streng vegan gelebt und seit meinem 13. Lebensjahr kein Fleisch gegessen. Das ich mit meiner Entscheidung ein beginnendes Leben beenden würde, tat mir weh. Ich bin froh, dass ich eine feministische Freundin habe, die mich in dieser Zeit sehr unterstützte. Sie erklärte mir, dass es für sie noch kein Leben war, was sich in meinem Körper gerade entwickelte, sondern lediglich die Möglichkeit, Leben zu werden. Außerdem sagte sie mir, dass ich es auch positiv sehen könnte: Ich wusste jetzt, dass ich dazu in der Lage bin, Kinder zu kriegen und ich könnte jetzt darüber nachdenken, unter welchen Umständen ich das möchte. In Gesprächen mit ihr und einem Psychologen von pro familia wurde mir klar, dass ich meine Entscheidung in erster Linie für mein Leben treffen musste, nicht für die Zellen, die sich immer weiter teilten und immer mehr wurden.
Reden über meine Abtreibung hilft
In den zwei Wochen, in denen ich mich um die Beratungsgespräche und Arzttermine für den Schwangerschaftsabbruch kümmerte, sprach ich mit vielen Freunden über meine Situation. Ich habe eine Freundin verloren, die meine Entscheidung nicht verstehen und akzeptieren konnte.
Ein Mann, der in der gleichen Branche wie ich arbeitete und mehr als doppelt so alt war wie ich, sagte zu mir: „Auf dem Arbeitsmarkt könntest Du einigen Frauen etwas voraus haben, wenn du so jung schon Mutter bist. Denn viele Arbeitgeber scheuen sich davor, Frauen einzustellen, weil die eben schwanger werden und dann ausfallen können.“ Es verstörte mich, dass er mit solch ökonomischen Argumenten an eine sehr persönliche Lebensentscheidung ging.
Es überraschte mich, wie viele Freundinnen und Frauen in meinem engeren Bekanntenkreis mit Sätzen wie: „Ach, dass hatte ich auch schon“ reagierten. Offensichtlich zogen es die meisten Frauen vor, diese Lebenserfahrung nur unter bestimmten Bedingungen preis zu geben und mit anderen darüber zu sprechen. Meiner Familie habe ich erst zwei Monate nach dem Abbruch von meiner Entscheidung erzählt.
Für mich war es wichtig, diese Entscheidung unabhängig von ihnen zu treffen und sie haben das akzeptiert. Meine wichtigsten Bezugspersonen sind mein Opa und meine Mutter. Mein Großvater fand, dass ich die richtige Entscheidung getroffen hatte. Meine Mutter akzeptierte meine Entscheidung, doch sie war sehr traurig. Ihr moralischer Satz: „So etwas machst du nicht noch einmal“ und ihre Tränen, als ich von meiner Erfahrung erzählte, sind mir in Erinnerung geblieben. Ich erklärte ihr, dass ich ihr sehr dankbar dafür war, dass sie sich mit 21 Jahren und in einer ähnlichen Lebenssituation, wie der meinigen, für mich entschieden hatte. Sie war damals von einem Mann schwanger geworden, der mit einer anderen Frau verheiratet war und sofort klarstellte, dass er nicht für mich da sein würde. Bei meiner Entscheidung spielte wohl auch eine Rolle, dass ich diese Erfahrung nicht machen wollte. Ich wollte kein Kind ohne Vater in die Welt setzen und bei der Erziehung auf die Hilfe meiner Mutter angewiesen sein.
Der Abbruch ist ein Teil von mir
Mein Schwangerschaftsabbruch gab mir die Möglichkeit, die Kontrolle über mein Leben zurückzugewinnen. Dank dieser Erfahrung habe ich gelernt, ein verantwortungsvolleres Sexleben zu führen. Ich habe seither keine Situation gescheut, die Verhütungsfrage rechtzeitig anzusprechen. Zudem gab mir der Schwangerschaftsabbruch die Gelegenheit, mich mit der Frage auseinanderzusetzen, ob und unter welchen Bedingungen ich Kinder bekommen möchte.
Ich finde es wichtig, dass der Paragraf 219a abgeschafft wird
Oft habe ich erlebt, dass Menschen, die gegen Schwangerschaftsabbrüche eingestellt sind, meine Entscheidung verstehen können und ihre Position überdenken.
Ich selbst habe früher bei Diskussionen um Gleichberechtigung abgewinkt und gedacht: „Worüber beschweren sich die Frauen in Deutschland nur, wir haben doch alles“. Heute bin ich froh darüber, dass es Menschen gibt, die für Geschlechtergerechtigkeit kämpfen und bezeichne mich selbst als Feministin. Für mich bedeutet das, die Rechte zu verteidigen, für die Generationen von Frauen vor mir erkämpft haben und die auch dazu führten, dass Schwangerschaftsabbrüche in Deutschland möglich sind. Und es bedeutet, für den Ausbau dieser Rechte zu kämpfen. Ich unterstütze die Forderung, dass Schwangerschaftsabbrüche keinen Straftatbestand darstellen sollten, denn ich weiß aus meiner eigenen Erfahrung und Gesprächen mit anderen Frauen, dass keine Frau gerne abtreibt. Zudem finde ich es wichtig, dass der Paragraf 219a abgeschafft wird, der Werbung für Schwangerschaftsabbrüche unter Strafe stellt.
Ich denke, es würde mehr Verständnis für das Thema geben, wenn wir offener miteinander reden würden und Frauen von ihren persönlichen Erfahrungen berichteten. Aus diesem Grund habe ich mich entschieden, meine Geschichte aufzuschreiben. Im besten Fall führen mehr Gespräche dazu, dass weniger Frauen ungewollt schwanger werden und diese Erfahrung gar nicht machen müssen.
*Name auf Wunsch der Autorin geändert.