Als Noam über die Schwelle zum italienischen Restaurant tritt, bemerkt das keiner. Fast unsichtbar schlendert er zwischen den Tischen hindurch. Dabei ist er ein landesweit bekannter, verurteilter Gewalttäter, dessen Gerichtsprozess man in der Presse von der Lokalzeitung bis zur »Bild« verfolgen konnte.
Noam sieht aus wie ein Jungunternehmer, der im BMW-Autohaus das neueste Modell abholen will. Mit dem typischen Bild eines jungen und engagierten Linken, wie es vielleicht viele erwarten würden, hat er nichts gemeinsam. Zumindest äußerlich. Er hat keine zerzausten Haare, trägt keine Patches oder Klamotten mit aufdringlichen Parolen, keine wind- und wasserfeste Jacke in Schwarz, hat keine ausgedehnten Ohren und auch sonst keinen Körperschmuck. Beim Nähertreten erscheint das einzige kleine Indiz, das den augenscheinlichen Geschäftsmann von seinen Weißweinschorle trinkenden Kollegen unterscheidet: die verblichene Tätowierung auf seinen Fäusten, die Frakturschrift, die erst beim grüßenden Händedruck lesbar wird: »Hate Cops«. Am Esstisch angekommen, zieht er in Seelenruhe seinen Mantel aus und bestellt bei der Kellnerin Spaghetti. Dann erzählt er, wie es dazu kam, dass er das letzte Jahr im Knast verbrachte.
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Sachsen 2014. Herbst. Polizei und Politik sind überfordert: Ominöse Figuren aus dem rechten, verschwörungstheoretischen Spektrum haben Kundgebungen organisiert. Jede Woche schließen sich immer mehr Menschen Pegida – Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes – an. Pegida will vieles kritisieren: die Elite, die Flüchtlingspolitik und die EU. Es wehen Deutschlandfahnen, aus grölenden Kehlen erklingt die Nationalhymne, und mit Lichterketten dekorierte Christenkreuze erhellen die Nächte im ehemaligen »Tal der Ahnungslosen«.
Bei Pegida knallt es

Aber auch auf der Gegenseite versammeln sich Tausende. Sie wollen ein Gegengewicht zu dieser neuen Protestbewegung bilden und vor ihrem nationalistischen Grundton warnen. Die Lage ist unübersichtlich, vor allem für die sächsische Polizei, die plötzlich und im Wochentakt Einsätze mit Tausenden Beamten stemmen muss. Es kommt vermehrt zu gewaltsamen Auseinandersetzungen, Brandanschlägen auf Flüchtlingsunterkünfte, Jagdszenen und Verhaftungen auf beiden Seiten.
An einem solchen Herbstmontag verlässt eine achtköpfige Gruppe die Pegida-Kundgebung und macht sich auf den Heimweg. Sie verlässt die belebten Straßen der Innenstadt und biegt in eine kleine Gasse ab. Von den vier dunklen Gestalten, die ihr in einem Abstand von 50 Metern folgen, ahnen sie nichts. Unbekümmert schlendern die Acht den Gehweg entlang – wer in diesen Tagen auf der neuen deutschen Protestwelle reitet, bewegt sich in sicheren Gewässern. Ihr Weg kreuzt den eines lautstarken Zugs von Gegendemonstranten. Singend und trommelnd laufen sie dieselbe kleine Seitenstraße entlang, begleitet von einem Spalier Polizisten. Unter dem Schutz der Geräuschkulisse rennen die vier schwarz gekleideten Gestalten von hinten auf die nichts ahnende Achtergruppe zu. Schnell werden die ersten zu Boden gestreckt. Aus der Achtergruppe schreit eine Frauenstimme, bevor auch sie einen Schlag ins Gesicht bekommt. Polizisten werden auf die Situation aufmerksam, rennen auf das Getümmel zu und greifen ein.
Kein rühmlicher Eintrag im Lebenslauf
»Vielleicht solltet ihr das mit der Frau nicht erzählen«, sagt Noam und schlürft an einer Spaghetti, »andererseits ist es vielleicht auch gut zu betonen, dass es keine Frage des Geschlechts ist, ob rassistische Hetze beantwortet wird.« Er spricht trocken und nüchtern über sich selbst, seine Taten und die Konsequenzen. Der Knast ist für ihn kein rühmlicher Eintrag im Lebenslauf, den man mit besonderem Stolz präsentiert. Er erzählt, dass er eigentlich alles tut, um den Knast zu vermeiden: »Wenn man politische Aktionen mit Haftrisiko durchführt, muss das Ergebnis zielführend sein, denn damit reißt man riesige Löcher in die eigene Infrastruktur, personell wie finanziell. Man hängt da nicht alleine drin, sondern ein Haufen Leute haben auf einmal ’nen zweiten Job, um sich um jemanden kümmern zu können.«
Dass er für die oben beschriebene Gewalttat so lange in den Knast muss, trifft Noam unerwartet und hart. Vor Gericht zeigt er sich ahnungslos, als sei er zufällig in eine Prügelei geraten. Doch die Staatsanwaltschaft sieht das anders. Sie wirft Noam vor, aus politischer Motivation heraus Gewalt gegen Angehörige des rechten Spektrums ausgeübt zu haben. Er muss in ein sächsisches Gefängnis, für ein Jahr und ein paar Zerquetschte.

Die Einrichtung liegt weit außerhalb der nächstgelegenen Stadt. Er kommt in den geschlossenen Vollzug und wird einem Hafthaus und Flur zugewiesen. Sein neues Zuhause – die sogenannte Piste – teilt er mit 15 anderen Häftlingen. Mindestens 20 Stunden am Tag ist man dort alleine eingesperrt. Ein bis vier Stunden gibt es Aufschluss. Dann kann man in den Fitnessraum oder zum Hofgang. Hier findet die meiste soziale Interaktion zwischen den Gefangenen statt.
In Sachsen in den Knast zu kommen birgt Gefahren, vor allem für jemanden wie Noam, der aus seiner Gesinnung keinen Hehl macht. Er berichtet von Nazigruppen, die sich mit Hitlergruß auf dem Hof begrüßen. Doch er hat Glück im Unglück. Seine Zellennachbarn sind größtenteils Kurden, Russen, »und ein paar Bekannte aus dem linksorientierten Hooligan-Umfeld«. Er muss lächeln, während er das erzählt. »Das war dann eine ganz andere Ausgangslage als erwartet – damit ließ sich die Zeit rumkriegen.«
Linke Hegemonie im Gefängnis
Mit den neu gefundenen Freunden und der Gewissheit im Rücken, nicht als einziger Linker in einem rechten Sumpf hinter riesigen Betonmauern zu versinken, schafft er es, weiter an seiner persönlichen Vorstellung einer nazifreien Welt zu arbeiten. Er und seine Freunde fangen an, gegen die Rechten im Gefängnis vorzugehen und bauen eine »linke Hegemonie« auf, wie Noam das nennt. Auf dem Hof posieren sie mit Szeneklamotten – sie wollen den rechten Häftlingen zeigen: Das ist unser Knast! Aber nicht nur mit geschmuggelten Accessoires setzen sie Zeichen: Als ein Mitglied der Freien Kameradschaft Dresden auf die gleiche Piste verlegt wird, kommt es im Treppenhaus zur Konfrontation. Dem vermeintlichen Kameraden wird empfohlen, nicht am Hofgang teilzunehmen. Diesmal muss Noam beim Erzählen laut lachen: »Ich glaube nicht, dass jemand was gemacht hätte, wäre er doch gekommen. Alle wollten ja so schnell wie mögich wieder raus! Da wäre man schön blöd gewesen, den vor den Wächtern umzuhauen.« Auf den Hof traut sich der rechte Mithäftling die nächsten sieben Monate trotzdem nicht. Manchmal reicht eben eine sehr überzeugende Drohung.
Unbemerkt bleiben Noams Umtriebe nicht. Die Justizvollzugsbeamten wissen, weshalb er sitzt, und sie suchen nach einer Gelegenheit, ihn zu bändigen. Eines Tages, während er Besuch empfängt, durchsucht ein Beamter seine Zelle. Er findet einen Brief, den Noam an seinen damals zehnjährigen Bruder verfasst. Der Beamte liest den Brief – ein massiver Verstoß gegen Artikel 10 des Grundgesetzes – in Deutschland herrscht Briefgeheimnis, ein Grundrecht, das nur in sehr seltenen Fällen außer Kraft gesetzt werden darf. In dem Brief teilt Noam seinem kleinen Bruder mit: »Ich höre viel Musik.«
Der Beamte wird misstrauisch, denn im Knast besitzt jeder Häftling ein protokolliertes Inventar. Man muss alle Gegenstände, die man besitzen möchte, genehmigen und registrieren lassen. Jede CD, jedes Buch und jede Jacke ist akribisch aufgelistet. Der Beamte schaut nach: kein Tonträger vorhanden. Dies nimmt die Gefängnisleitung als Zeichen, dass er sich unerlaubte Gegenstände einschmuggeln lässt. Tatsächlich hat sich Noam im Knast ein Handy besorgt, über das er Musik gehört hat. Wie er an das Handy rankam, möchte er nicht verraten. Er will den anderen Gefangenen nicht die Möglichkeit versauen, im Knast ein kleines bisschen Freiheit zu genießen. »Und genau das tut man, wenn man über Schmuggelrouten redet.«
Er bekommt eine Postkontrolle aufgebrummt. Seine Briefe können nun jederzeit von Gefängnismitarbeitern gelesen werden. Die, die er schreibt, aber auch alle, die ihm Freunde und Verwandte schicken. Er klagt dagegen, doch solche Prozesse kosten Geld und vor allem Zeit. Schließlich bekommt er recht: Das Oberlandesgericht Dresden befindet die ausgesprochene Postkontrolle und vor allem ihren Werdegang für nicht rechtens – ein Jahr nach Noams Entlassung. »Der Bulle, der rechtswidrig meine Post gelesen hat, hat keine Konsequenzen zu befürchten, der bekommt dann lediglich ein Jahr später einen Brief, in dem steht: Die Maßnahme war rechtswidrig.«
Schikane hinter Gittern
Durch die Postkontrolle wird ihm das Leben drinnen deutlich erschwert. Eines Tages bekommt er einen Brief, in dem ihm ein Freund schreibt: »Zu der Person, nach der du gefragt hast, habe ich nichts gefunden.« Die Gefängnisverwaltung nimmt das als konkreten Anlass, auf eine akute Gefahr für einen Mithäftling zu schließen. Noam muss nun auf den Sonderhof. Er wird von den anderen Häftlingen isoliert – seine tägliche Ration Frischluft verbringt er abgetrennt vom Rest, in einem kleinen, eingezäunten Hof. Der eh schon spärliche Kontakt zu den anderen Häftlingen verschwindet – ein eingeschmuggeltes Smartphone ist sein einzig sicherer Draht zur Außenwelt. Nur so kann er seine Gedanken mit Freunden teilen, ohne dass jemand mitliest.
»Der Knast funktioniert komplett archaisch. Es gibt eine strikte Hierarchie unter den Häftlingen, aber das gleiche gilt für die Beamten. Jeder im Knast weiß ganz genau: Ah, heute ist der und der da, da muss ich mich soundso verhalten. Wenn sie einen nicht mögen, ist es schon mal vorgekommen, dass jemand gar nichts zu essen bekommen hat, nicht mal eine Scheibe Wurst.«
Jeden Tag Wurstbrote
Von Wurst aber hat Noam eh genug. Das Essen ist das Einzige, was er vom regulären Knast noch mitbekommt. Akribisch hat er aufgeschrieben, wie viel Wurst man ihm täglich vorsetzt, nämlich bis zu zwölf Scheiben am Tag. Irgendwann lässt er sich als Muslim eintragen, bekommt die Halal-Variante und hofft auf Besserung, »aber auch mit Mohammedanerkost gab’s fast nur Wurst, dafür aber Geflügel. Das ist nur zwei Drittel so eklig, aber gegessen habe ich das trotzdem nicht. Das Essen dort ist ganz einfache Mathematik: mittags was Warmes vom Blech, abends Brot mit Wurst plus X. Das kann eine Birne sein oder eine Scheibe Käse sein, aber Hauptsache nie Gemüse. Manchmal auch ohne X – je nachdem!«
In Deutschland gilt die Resozialisierung als Vollzugsziel. Wenn Menschen in den Knast kommen, weil sie für eine Straftat verurteilt wurden, sollen sie in der Haft auf ein straffreies Leben danach vorbereitet werden. In Paragraf 2 des Strafvollzugsgesetzes steht: »Im Vollzug der Freiheitsstrafe soll der Gefangene fähig werden, künftig in sozialer Verantwortung ein Leben ohne Straftaten zu führen (Vollzugsziel).«
Noams Knastgeschichten deuten darauf hin, dass die Realität eine andere ist. Seine Erfahrung hat ihm den Eindruck vermittelt, dass das Gefängnis eher ein Auslöser statt einer Lösung sozialer Probleme ist: »Der Großteil der Inhaftierten sind sozial Abgehängte. Die Vorstellung, dass solche Strafvollzugsanstalten zur Resozialisierung beitragen, würde ich als Lüge bezeichnen. Die Menschen, die eingesperrt sind, stammen fast ausschließlich aus prekären Verhältnissen, viele haben kein intaktes soziales Umfeld. Enorm viele sitzen sogenannte Ersatzfreiheitsstrafen ab, weil sie kein Geld haben, um sich freizukaufen: Das ist Klassenjustiz. Für viele geht’s erst mit der ersten Haftstrafe richtig bergab, wenn sie nach der Entlassung komplett mittellos und auf sich alleine gestellt sind.«
Noam war zu seiner Haftzeit einer von nur zwei Insassen mit Abitur. Bei 240 Häftlingen könnte man ihn also zur Bildungselite der Anstalt zählen. Aber auch ihm hat man eine Resozialisierung nicht gestattet. Gefangene müssen in Deutschland spätestens sechs Monate vor Haftende Ausgänge gewährt bekommen, um ihr Leben danach zu organisieren – etwa für die Wohnungs- oder Arbeitssuche. Das hat ihm die Gefängnisleitung mit folgender Begründung verwehrt: »Zur wirtschaftlichen Absicherung seines Lebens nach der Haftentlassung steht es dem Antragssteller frei, eigenverantwortlich Anträge auf Gewährung von BAföG oder ALG II zu stellen. […] Dem Antragsteller (steht) bei Versagung des BAföG der Bezug von ALG II zu.« Wenn es also mit deinem Studium nicht klappt, kannst du ja Harzen, so ungefähr.
Man kann von Noam und seinen Aktionen, die er selbst als politische Arbeit bezeichnet, halten was man möchte. Man kann auch gar nichts davon halten. Wenn man aber seine Geschichten hört, so stellt sich die grundsätzliche Frage: Wie sinnvoll ist unser Strafsystem? Noam selbst wurde durch seinen Knastaufenthalt weder zu Reue noch zu Bedauern gebracht. Kriminell ist Noam ja auch nicht für Geld oder Ruhm geworden, sondern für seine Vorstellung einer besseren Welt. Mit der Bezeichnung »kriminell« hat er kein Problem. »Das ist nur eine Frage der Perspektive. Wenn Flüchtlinge im Mittelmeer ertrinken, weil Europa seine Grenzen schützt, ist das auch legal – und jetzt? Wenn die bürgerliche Gesellschaft mich als kriminell bezeichnet, dann versteh ich auch, warum.«
Danke, Antifa!
Die Folgen von Gewalt gegen Rechts sind in der politischen Landschaft Sachsens deutlich spürbar: Erst im Mai entschied sich die NPD, nicht an den Stadtratswahlen 2019 in Leipzig teilzunehmen – »aufgrund der bekannten massiven Gewalttaten von Linksextremisten gegen politisch Andersdenkende«, wie der Landesvorsitzende Jens Baur damals der Leipziger Internetzeitung mitteilte. Als Bespiel dafür gilt wohl auch der Überfall auf den damaligen Parteivize Axel Radelstock, der im Dezember 2016 in seinem Handyladen zusammengeschlagen wurde, woraufhin er sein politisches Amt niederlegte. Gleichzeitig war es die AfD, die das Thema »linke Gewalt« für ihren Wahlkampf ausschlachten konnte. Laut aktuellen Umfragen könnte sie bei der kommenden sächsischen Landtagswahl mit 25,2 Prozent zweitstärkste Kraft werden.
Als Noams Erzählungen im italienischen Lokal sich dem Ende neigen, merkt man die Müdigkeit in seinen Augen. Er erzählt sehr lebendig von dieser Zeit; seine Geschichten sind teilweise erschreckend, teilweise erwartbar und manchmal einfach nur lustig. Trotzdem – die Zeit im Gefängnis hat Spuren hinterlassen. In seiner letzten Haftwoche hatte Noam Einschluss und durfte die Zelle nicht verlassen. Rastlos ist er die wenigen Quadratmeter abgelaufen und hat geplant, aber nicht etwa den nächsten großen Coup, sondern die ersten Schritte in Freiheit. Herausgekommen ist »eine riesige Einkaufsliste für Rewe, welcher Friseur und welches Restaurant« besucht werden soll. Und als hätte er plötzlich gemerkt, wie kostbar seine Zeit sein kann, steht er auf, zieht seinen Mantel an und verlässt das Restaurant.
In diesem Artikel wurden ein paar Details geändert, darunter der Name des Protagonisten und die Haftdauer. Damit soll die Anonymität der Person ebenso gewahrt werden wie die von Menschen aus seinem Umfeld.