„Ich esse kein Fleisch.” „Kein Problem, es gibt auch vegetarisches Essen.”„Ich bekomme im Fahrstuhl Platzangst.” „Lass uns die Treppe nehmen.”„Für mich bitte kein Bier. Ich trinke nicht.“ „Alles klar, ich bring dir ’ne Mate mit.“ „Ich bin asexuell.“„Bitte was? Du magst Sex nicht? Hast du vielleicht einfach immer mit den Falschen geschlafen? Oder ekelst du dich vor Menschen? Ist dir mal was Schlimmes passiert?” Ungefähr so kann man sich den Gesprächsverlauf vorstellen, wenn Paula* und Tim* (Namen geändert) ihre sexuelle Orientierung offenlegen. In solchen Fällen hat ihr Gegenüber nicht die geringste Vorstellung davon, was Asexualität eigentlich ist. Drei geduldige Tassen Tee später sind ihre Zuhörer*innen oft ihre Vorurteile los.
„Ich finde andere Menschen attraktiv, nur nicht sexuell anziehend“, erklärt Paula. Sie steht auf Männer – und ja, sie kann sich auch unsterblich in sie verlieben. Ihren Penis will sie trotzdem nicht in sich haben. „Spannende Gespräche sind mir zum Beispiel viel wichtiger.” Diese Form der Gleichgültigkeit was Sex betrifft, kann ganz unterschiedlich ausgeprägt sein: Während Paula sich dabei meistens langweilt, empfinden andere asexuelle Menschen Sex als unangenehm oder schrecklich. „Da es auf mich keine besonders große Wirkung hat, ist es mir einfach egal“, erklärt sie und zuckt mit den Schulten.
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Asexuelle Menschen stehen nicht automatisch auf Gleichorientierte
Die Nähe zu ihren Partnern genießt sie trotzdem: „Ich liebe kuscheln. Löffelchen ist das Allerbeste auf der Welt.” Ungefähr zweimal im Jahr habe sie sogar wahnsinnig große Lust, sei kaum noch zu bremsen und darüber hinaus würde sie ihren Partnern auch gerne mal einen Gefallen tun, meint sie und ergänzt: „Ich kann mich auch daran erfreuen, wenn ich sehe, dass der andere Spaß hat.“ Mit Zwang, Bedrängnis oder einem schlechten Gewissen habe das überhaupt nichts zu tun. Vielmehr sei es sowas wie ein Mitmachen für sie – wie bei einem Gesellschaftsspiel, das eben nur Paula nicht sonderlich unterhaltsam findet. „Zum Glück haben meine Partner noch andere, mit denen sie regelmäßig schlafen.“
Genauso wenig wie die Monogamie sowas wie der heilige Gral von romantischen Paarbeziehung ist – und alles andere nur der billige Plastikbecher – genauso wenig leben asexuelle Menschen ausschließlich in offenen Beziehungen oder fühlen sich zu Gleichorientierten hingezogen. „Es gibt dafür keine Vergleiche und auch keine Formel wie bei eigentlich allem“, sagt Paula.
Ihre Libido hat keine Richtung
Und tolle Orgasmen erlebt Paula auch. Und das jederzeit und überall! Allerdings mit sich allein. „Meine sexuelle Erregung existiert, ist aber nicht an eine andere Person gebunden.“ Während sich die Libido von nicht-asexuellen Menschen auf andere richtet, hat sie bei asexuellen Menschen weder eine Richtung noch ein Ziel.
Dass Sex sie nicht so richtig packt, hat sie schon nach ihrem ersten Mal gespürt. „Uns Frauen wird gerade in dieser Zeit eingeredet, dass das ja völlig normal wäre, dabei weniger Spaß zu haben als Männer.” Paula glaubte lange an das sexistische Vorurteil. Viele Partner später steigert sich ihre Befriedigung trotzdem nicht. Auch die Ausrede, alle wären schlechte Liebhaber gewesen, zählt für sie nicht mehr. Als sie sich ihren engsten Vertrauten mitteilt, wird ihr eingeredet, sie sei lesbisch. „Gelegentlich passiert das heute noch, wenn ich mich oute.”
Eines Abends sitzt sie mit Freunden bei einem Bier zusammen. Die Stimmung ist entspannt. Jede*r soll seine*ihre verrückteste Vorliebe nennen: Ein Bekannter sehnt sich nach Füßen, wieder andere nach Latex oder Rollenspielen. „Na ja, ich hatte so überhaupt nichts zu erzählen”, sagt sie. Noch lange danach sucht sie nach einem ziemlich ausgefallenen Fetisch. Vergeblich, denn es gibt keinen. So richtig bewusst wird ihr alles, als sie auf YouTube zufällig einen Dokumentarfilm entdeckt, der eine asexuelle Frau begleitet. „Ich habe mich eins zu eins in ihr wiedergefunden.” Endlich hat sie Gewissheit und einen Namen für das, was sie nicht fühlt.
„Womit auch das Warten darauf, dass bald alles anders ist, endlich ein Ende hatte”, sagt Paula. Von nun an kann sie ihren Partnern in einem Wort erklären, warum sie keine Lust hat und dass es nicht an der Beziehung liegt – oder daran, dass sie sich nicht genug Mühe geben würden. „Das bringt sehr viel Gelassenheit in mein Leben.” Weshalb es ihr nicht schwer fällt, sich mit dem Begriff zu identifizieren.
Nicht die Person, sondern die Nähe ist unangenehm
Bei Tim* ist das ganz anders. Die Vorstellung von nackten Körpern, die sich aneinander reiben oder zusammenstecken, findet er nach wie vor total verrückt. „Ich bin jetzt Anfang zwanzig und Jungmann wie man so schön sagt. Ich glaube auch nicht, dass sich das bald ändern wird”, sagt der Chemiestudent. Schon als Jugendlicher bemerkt er sein Desinteresse an Sex. Erotische Szenen in Filmen schaltet er weg. Nicht, weil er sich schämt, sondern weil er nichts damit anfangen kann. In der Hoffnung darauf, dass sich noch irgendetwas verändert, probiert er sich aus. Küsst mal eine Frau und auch einen Mann, richtig gut dabei fühlt er sich nicht. „Obwohl ich beide sehr attraktiv fand und zuvor auch spannende Gespräche mit ihnen geführt habe, änderte das überhaupt nichts”, sagt er. Schließlich ist es nicht die Person, sondern die Nähe zu ihr, die Tim unangenehm findet.
Als er sein Studium beginnt, lernt er eine asexuelle Kommilitonin kennen. „Wir haben uns super verstanden, angefreundet und sie hat sich ziemlich schnell geoutet.” An dem Tag spricht Tim zum ersten Mal mit einer anderen Person über das, was da in ihm vorgeht. „Es war total befreiend zu erfahren, dass ich nicht der Einzige bin, der streicheln und küssen nicht braucht.”
Dass Männer den Ruf haben, dauergeil zu sein, macht es nicht unbedingt einfacher
So offen damit umgehen wie Paula*, kann er aber noch nicht. Nur seine vier engsten Freund*innen wissen von seiner sexuellen Orientierung. „Dass Männer den Ruf haben, dauergeil zu sein, macht es nicht unbedingt einfacher zu sagen, dass man gar keinen Bock hat.” Im Alltag weicht er dem Thema Sex aus, in dem er vorgibt, zu wenig Erfahrung zu haben, um Ratschläge zu geben oder allgemein mitreden zu können. „Ich verbringe sehr wenig Zeit mit Mackern, weshalb ich meistens auch in Ruhe gelassen werde.”
Nur in seiner Familie gerät er immer wieder unter Druck. So sehr, dass er beginnt, Partner*innen zu erfinden. „Ich erzähle, dass ich sie im Netz kennengelernt habe und sie deswegen weiter weg wohnen.” Trotzdem lassen seine Eltern nicht locker, bohren täglich nach ihren Hobbys oder ihrem Lieblingsessen, fragen nach Fotos des Paars, bitten Tim darum, die vorgetäuschte Linda endlich mal kennenlernen zu dürfen. „Dann hat eine sehr gute Freundin mal für einen Abend Linda gespielt. Das war vielleicht nicht richtig, aber sie haben wenigstens aufgehört, zu fragen.” Seine Eltern anzulügen, fällt ihm schwer. Bereit dafür ihnen die Wahrheit zu sagen, ist er noch nicht. Da er gerade noch finanziell von ihnen abhängig ist, will er keine Familienkrise riskieren. „Wenn ich meinen Master abgeschlossen habe, erfahren sie es. Schön wäre natürlich, wenn sie mich überraschen. Sie zu den Wenigen zählen, die wissen, was Asexualität ist und mich nicht mit nervigen Fragen quälen.”
*Die Protagonist*innen sind der Autorin bekannt, möchten aber anonym bleiben.