Eigentlich dachte ich, ich hätte es hinter mir gehabt. Doch durch eine Verkettung unglücklicher Umstände, konnte ich vor drei Jahren meinen Führer*innenschein nicht zu Ende machen. Jetzt, da ich noch mal ran musste, kam ich auch wieder in den Genuss eines Erste-Hilfe-Kurses des örtlichen Roten Kreuzes. Schreckensszenarien bauten sich vor meinem inneren Auge auf. Würde es wieder so schlimm werden? Mit dutzenden Jungmännern in einem Raum, von der Kursleitung mit dummen Anspielungen und Witzeleien über sexuelle Übergriffe aufgeputscht? Es kam, wie es kommen musste.
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Ich riss mich zusammen wie selten, um nicht fluchtartig den Raum verlassen zu müssen oder vor Ort auszurasten. Völlig fertig kam ich nach acht Stunden Kurs nach Hause und verkroch mich im Bett. Es war natürlich wieder genau so schlimm gewesen. Schon zu Beginn hatte der Kursleiter die Latte für den Tag hoch gehangen. Er heiße Bernd, arbeite beim Deutschen Roten Kreuz und möge Kinder, erzählte Bernd, um sich sodann halb witzig gemeint, halb ernst, in Rage zu reden. Jeder Mann, der Kinder möge, würde ja heutzutage gleich als Pädophiler abgestempelt. Er versicherte, das nicht zu sein – obwohl ihn niemand von uns danach gefragt hatte. Er erntet Grinsen unter den vornehmlich jungen Kursteilnehmenden – haha, er hat „pädophil“ gesagt. Ich richte meinen seelischen Panzer auf.
Eine bewusstlos am Boden liegende Puppe ist ein Magnet für Witzeleien über sexuelle Übergriffe aller Art
Daheim im Bett ärgerte ich mich, dass der Tag schon wieder so verlaufen war. Ich schrieb Freundinnen an und fragte nach ihren Erfahrungen mit Erste-Hilfe-Kursen. Dann fragte ich via Facebook öffentlich nach. Wie ich es mir gedacht hatte: Dass ich zwei mal in einen Kurs „straight outta hell“ geraten war, war nicht dem Zufall geschuldet. Vielmehr scheint es tiefere Gründe zu geben, dass so viele dieser Übungen grässlich ablaufen. Ich bekam einige Antworten zugesandt. Anne erzählt: „Ich kann mich erinnern, dass der Kursleiter vor dem gesamten Kurs zu einer Frau meinte, er könne echt gut eine hübsche Assistentin für seine Kurse gebrauchen.“
Der Klassiker der unangenehmen Situationen entsteht wohl bei den Übungen zur Wiederbelebung. Dazu setzen die Anbieter der Kurse relativ lebensechte Puppen ein, denen man tatsächlich in den Mund pusten kann. Aber eine bewusstlos am Boden liegende Puppe scheint auch als Magnet für Witzeleien über sexuelle Übergriffe aller Art zu dienen. Es wird darüber gelacht, dass man am Boden liegende Frauen ja prima sexuell attackieren könnte. Bei der Beschreibung einer Erste-Hilfe-Situation in einem meiner Kurse wird betont, die Person am Boden sei eine gut aussehende Frau. Freilich in hässlicheren Worten. Der Kursleiter ruft „Aber nicht mit Zunge!“. Die Jungs im Kurs lachen. Mädchen schmunzeln auch. Es ist die Weise, wie Mädchen oft lachen, wenn es zwar gegen sie geht, aber „alles nicht so gemeint“ ist. Bernd betont zwischendurch, die Witzeleien rund um sexuelle Gewalt, Männer und Frauen, hübsche Frauen und das Anfassen von Frauen seien alle „nicht ernst“. Und trotzdem geht es stundenlang so weiter. Vor allem die Jungs sind aufgeputscht, die Mädchen konzentrieren sich eher auf den Kurs.
Helfer sind männlichen Geschlechts, hilfsbedürftig sind Frauen
Luisa arbeitet im Gesundheitssystem und schreibt mir: „Schon oft gehörter Spruch bei Erste-Hilfe-Kursen: Gedrückt wird da aufs Brustbein, in Höhe einer gedachten Linie zwischen den Brustwarzen. Aber dieser Hinweis ist irreführend, weil, höhö, bei Frauen das ja dann auch auf dem Bauchnabel sein könnte, weil, haha, kicher, prust, HÄNGETITTEN, höhö oder sogar zwischen den Knien haha“. Die Horrorvorstellung der männlichen Kursteilnehmer ist wohl, dass, wenn man schon die totale Kontrolle über einen leblosen Frauenkörper hat, man diesen dann nicht nicht begehren könnte. Der „Witz“ scheint das „Pech“ zu sein, das einer hat, der eine bewusstlose Frau „erwischt“, die er nicht sexuell attackieren möchte. So wird ein Zugang zum weiblichen Körper normalisiert, der immer direkt sexuell ist. Diese Sexualität soll dann bevorzugt mit Zwang ausgelebt werden. Was als lustig empfunden wird, denke ich, ist nur das erhabene Gefühl, zur Tätergruppe zu gehören, nicht zu den Opfern, zu den Frauen. Sowieso ist in den meisten Beispielen in solchen Kursen klar: Helfer sind männlichen Geschlechts, hilfsbedürftig sind Frauen.
In meinem Kurs erklärt Bernd, wie wichtig es ist, schockierten und verletzten Personen gut zuzureden und sie zu beruhigen. Wichtig hält er dafür Körperkontakt, also das Anfassen am Arm. Er kommt nicht umhin, das zu erzählen, ohne darüber herum zu witzeln, dass Frauen bei Männern, die sie anfassen, stets an einen Vergewaltiger denken würden. Er äfft eine Betroffene nach. Männer seien bei diesem Part der Ersten Hilfe eben von Natur aus etwas benachteiligt, weil Ersthelferinnen mehr Vertrauen entgegen gebracht würde. Darum sei es wichtig, nicht gleich den Arm einer hilflosen Person zu ergreifen und sie zu streicheln, sondern verbalen Kontakt aufzunehmen. Die Episode mit den dummen Frauen, die in Helfern ihre Vergewaltiger erblicken, hat trotzdem wieder insbesondere die Jungs im Kurs in Feierlaune versetzt. Haha, Frauen.
Ein großes Problem für mich sind die Rollenspiele, bei denen wild zugeteilte junge Leute am Körper von anderen Übungen vormachen müssen. Nicht nur, dass die dabei entstehende Verunsicherung dann in von Kursleitern vorgegebener Weise kompensiert wird – etwa Witze über das Anfassen fremder Menschen, am liebsten über feminin auftretende Mädchen. Weil alle den Kurs brauchen, meist für die Fahrerlaubnis, besteht auch kaum die Chance, an unerwünschtem Körperkontakt vorbei zu kommen. In meinem ersten Kurs wurden dazu auch Männer und Frauen gemischt in Gruppen zugeteilt. Bernd hingegen sagt, dass es nun so sei, dass das Ganze geschlechtergetrennt stattfinde, „Anweisung von oben“.
Sexueller Zwang. Und den finden wir im Jahr 2020 noch vor allem: super witzig.
Nur wie das mit den Diversen sei, da wisse ja keiner, sagt er, und feiert sich lachend für seinen „Witz“. Ich als diverse Person werde den Mädchen zugeordnet, protestiere nicht und weise auch lieber nicht auf meine eigenständige Existenz hin. Mit den Anderen ist es dann sehr entspannt. Ich werde nach meinem Einverständnis zu Berührungen gefragt und selbst wenn es nicht so wäre, merke ich: die Anderen haben gar keine Lust, die Situation irgendwie unangenehm aufzuladen. Sie überspielen ihre Unsicherheit auch nicht mit Rumgemackere oder Selbstfeierei.
Ich beobachte die Jungsgruppen. Sie müssen jetzt andere Jungs anfassen und tun das so schlecht gespielt gelassen, dass jeder sehen kann, dass es für sie eigentlich nicht zur sexuellen Aufladung durch die Witze passt. Entsprechend homophobe Anspielungen fliegen auch immer wieder durch den Raum, nach denen es für Jungs „natürlich“ unangenehmer sei, andere Jungs anzufassen. Hihi. Andersherum ist das „Angenehme“ am Anfassen von Mädchen dann klar sexuell, weil Mädchen und ihre Körper in dieser Sichtweise immer vor allem sexuelle Objekte sind. Mit diesen Objekten umgehen heißt also automatisch: Das Subjekt, das sich selbst bestimmen will, übergehen. Sexueller Zwang. Und den finden wir im Jahr 2020, auch junge Leute, noch vor allem: super witzig.