„Zigarette“, „behaart“, „3er BMW“, „Knoblauchfahne“ oder einfach nur „stabil“. Keine beliebig aufgelisteten Wortfetzen, sondern reale Meinungen aus YouTube-Videos, in denen gezeigt wird, wie Youtuber*innen durch deutsche Innenstädte laufen und Passant*innen dazu befragen, wie sie türkische Männer in drei Worten beschreiben würden. „Sind schon stramme Leute ja, freundlich, aber denken schon, dass sie die Geilsten sind.“ Eine junge Frau blickt dabei kurz in die Kamera, dreht sich zu ihrer Freundin und sagt schüchtern: „Oder halt asozial, aber das will ich jetzt nicht sagen.“
___STEADY_PAYWALL___
Einiges zu sagen hat allerdings Ahmet Toprak, Sozialwissenschaftler an der FH Dortmund. Im Oktober 2019 erschien sein neues Buch unter dem Titel „Muslimisch, männlich, desintegriert: Was bei der Erziehung muslimischer Jungen schief läuft“, das nicht nur wegen seines Titels für einige Kontroversen sorgte. In seinem Buch stellt er junge muslimische Männer als orientierungslos und patriarchal-autoritär dar, was vor allem mit der streng-religiösen Erziehung der Eltern und geschlechtergetrennten Anforderungen an die Kinder begründet wird. In einem Interview mit der „taz“ im Dezember 2019 geht Toprak auf einzelne Punkte dazu ein. Auf die Frage, was mit den von den Eltern, und besonders von den Vätern, überlieferten Rollenbildern in Deutschland passiere, antwortet er: „In der Türkei auf dem Land wird der Junge vom Vater mitgenommen, schon mit sieben oder acht. Er beobachtet den Vater, wie er sich verhält, wenn er Handel treibt oder das Feld bearbeitet. So soll er sich in die Geschlechterrolle einfinden.“ Zur Rolle des Vaters heißt es weiter: „In Deutschland ist der Vater oft nicht da, weil er arbeitet, arbeitslos ist, vielleicht depressiv, trinkt. Zudem sind viele Väter ihren Söhnen unterlegen. Der Junge kann besser Deutsch, er weiß, wie das Leben in Deutschland funktioniert. Der Vater kann nicht als Vorbild funktionieren, während gleichzeitig die traditionelle Vorstellung vom Vater da ist, an der der Sohn sich orientieren soll.“
All diesen Menschen ein solch enges Korsett von Männlichkeit anzuziehen, ist schlichtweg falsch und gefährlich
Es gibt ein grundlegendes Problem mit dieser „traditionellen Vorstellung“ des Vaters. Bei Toprak ist die Rede von Vätern, die „Handel“ treiben und das „Feld bearbeiten“. Durch diese Aussage wird suggeriert, dass ein Großteil der Väter genau wegen dieser Sozialisation ein „rückständiges“ Bild von Männlichkeit haben, da sie aus einem bäuerlichen bzw. „unmodernen“ Kontext kommen. In Deutschland leben nach den aktuellen Zahlen knapp drei Millionen türkeistämmige Menschen, wovon 1,4 Millionen Männer sind. All diesen Menschen ein solch enges Korsett von Männlichkeit anzuziehen, ist schlichtweg falsch und gefährlich. Über türkische Väter wird dadurch eine kulturalisierende Debatte geführt, also eine auf der Grundlage pauschalisierender Bilder über die vermeintlich unveränderbare Kultur einer Person. Das ist problematisch. Dazu kommt aber eine andere, unbekannte Krise: Die der türkisch-muslimischen Männlichkeit in Deutschland. In unzähligen Meinungsartikeln, Kolumnen und Fernsehbeiträgen wird über die Gefahr des (türkisch)-muslimischen Mannes gesprochen und gestritten, der durch seine bloße Existenz (weiß-deutschen) Frauen Angst mache. Das ZDF sendete im Juni 2019 sogar eine Dokumentation mit dem Titel „Unter Beobachtung – Muslimische Männer in Deutschland“. Wenn ich dann noch solche Äußerungen wie die von Ahmet Toprak lese, macht mich das wütend, aber es lässt mich unweigerlich dabei an meinen eigenen Vater denken.
Mein Vater ist als Sohn einer Bauernfamilie in der Türkei aufgewachsen. Er hat, genauso wie Toprak beschreibt, seinen Vater dabei beobachtet, wie er täglich das Feld bestellte. In den frühen 80er Jahren ist er nach Deutschland geflohen, weil er politisch verfolgt wurde. Er war ein strenger Vater und war mir gegenüber dominant. Ich erinnere mich noch daran, wie er mich, sobald es irgendwas am Haus zu reparieren gab, schreiend zu sich rief. Ich hatte Angst, etwas falsch zu machen, denn jedes Mal sagte er zu mir: „Du wirst es sowieso nie lernen. Wieso habe ich dich eigentlich gerufen?“ Habe ich es nicht hingekriegt, war ich in seinen Augen nutzlos. Bis heute begleitet mich dieses einschüchternde Verhalten, sobald ich auch nur kurz etwas selber reparieren möchte. Was ich damit sagen will: Ich habe meinen Vater in seinem Alltag beobachtet, vieles übernommen und kann die Anforderungen an mich als Sohn, über die Toprak schreibt, nachvollziehen. Aber genauso wie ich, versucht mein Vater, sich zu verändern, und genau das hat auch einen Effekt auf mich. Er hört zu und teilt seine Gedanken, die ich in einzelnen Artikeln auch öffentlich gemacht habe.
Für die mediale Berichterstattung ist es sehr einfach, dieses Narrativ zu übernehmen, weil es sich der Komplexität von Männlichkeitskonstruktionen und Sichtweisen entzieht
Durch die Nutzung orientalistischer Bilder werden, wie Paul Scheibelhofer, der zu kritischer Geschlechterforschung an der Uni Innsbruck forscht, beschreibt, Bilder „archaischer Kultur und gefährlicher Traditionen“ benutzt, um einen patriarchalen, türkisch-muslimischen Übermann zu konstruieren, der unveränderbar sei. Gleichzeitig wird damit eine eigene, sich positiv abgrenzende (deutsche, nicht-muslimische, weiße) Männlichkeit entwickelt, die sich in Bezug auf zum Beispiel Geschlechtergerechtigkeit „modern“ darstellt und damit den abwertenden Blick auf türkisch-muslimische Männer legitimiert. Für die mediale Berichterstattung heute ist es deshalb sehr einfach, dieses Narrativ zu übernehmen, weil es sich der Komplexität von Männlichkeitskonstruktionen und Sichtweisen entzieht. Dabei wird vergessen, dass alle gängigen Stereotype zu einem großen Teil mit Ausgrenzungs- und Rassismuserfahrungen einhergehen, die in eine Desintegration aus dem gesellschaftlichen Gefüge der Mehrheit mündet. Das sagt Toprak zwar auch, aber die Kernbotschaft bleibt bei ihm eine andere. Gewaltbereitschaft, Verachtung von Frauen, ehrgetriebene Weltsicht und skandalisierende Berichte wie von Necla Kelek oder Seyran Ateş, erhalten viel Aufmerksamkeit und prägen die gesellschaftliche Debatte. Genau deshalb haben sie einen Einfluss darauf, wie sich vor allem junge türkische Männer selbst wahrnehmen.
Dabei wird oft vergessen, dass die Mehrheitskultur in Deutschland patriarchale, heterosexistische Strukturen besitzt
Die letzten Jahre in Deutschland haben eines deutlich gezeigt: Die Art und Weise, wie über etwas gesprochen wird, bestimmt nun einmal die Rahmenbedingungen der Politik, die für oder eher gegen sie gemacht wird. Wenn bei türkisch-muslimischen Männern von orientierungslosen Eltern, einem gewaltbereiten Umfeld und kriminellen Lebenswegen gesprochen wird, und das alles durch eine rassistische und diskriminierende Politik entstanden ist, dann ist es nur logisch, dass sich die Politik auch weiterhin auf Maßnahmen stützt, die diese klischeebeladene Problemhaftigkeit der Männer zum Ziel hat. Es gibt einfach keine Angebote, die diese Männer auf Augenhöhe abholt, stattdessen werden Präventivmaßnahmen gegen Aggressionspotenziale und Nachhilfe in Geschlechtergerechtigkeit erteilt. Dabei wird oft vergessen, dass die Mehrheitskultur in Deutschland patriarchale, heterosexistische Strukturen besitzt und die Auseinandersetzung mit „gefährlicher“ türkisch-muslimischer Männlichkeit gleichermaßen einer Auseinandersetzung mit den eigenen problematischen Formen der Männlichkeit bedarf.
Die Bilder von rückständigen Vätern und Männern stützen einen teils rassistischen, orientalisierenden und diskriminierenden Diskurs. Sie stellt türkisch-muslimisch gelesene Männer unter Generalverdacht. Eine Vielfalt von Geschichten unterschiedlicher Sozialisationen, sexueller Identitäten und Männlichkeitsvorstellungen innerhalb der türkeistämmigen Communities in Deutschland wird dadurch nicht gehört. Viel mehr noch, sie wird dadurch verweigert.
Denn Ausgrenzung und Diskriminierung fängt genau da an, wo die Sprache in Grenzen denkt
Zum Ende des Interviews meint Toprak: „Weil wir immer andere Erklärungen hören, wollte ich den Elternaspekt mal genauer in den Vordergrund bringen. Vor allem entlaste ich damit die Jungen. Eigentlich sind sie das Opfer des Patriarchats.“ Mit so einer Rhetorik wird niemand entlastet, sondern nur der kulturalisierende Blick auf türkisch-muslimische Männer verstärkt und Rechten genau das Bild auf dem Silbertablett serviert, mit dem anti-demokratische, antimuslimische Politik gemacht wird. Und dagegen muss protestiert werden. Denn so wird die eine Geschichte über türkisch-muslimische Männer die bestimmende und letztlich die gefährliche. Denn Ausgrenzung und Diskriminierung fängt genau da an, wo die Sprache in Grenzen denkt. Denn ja, die gesamte deutsche Gesellschaft ist Opfer des Patriarchats. Und wir sollten gemeinsam dagegen kämpfen.