Schöne Kuhfladen. Faustgroß. Genau hier, dicht nebeneinander liegend. Fünf Meter in die Breite, sieben in die Länge, so dass der abscheuliche Gestank durch die ganze Kuppelhalle des Hauptbahnhofs zieht. Das schoss mir durch den Kopf als ich mit offener Hose vor der Sanifairanlage bzw. den Bezahl-Klos stand. Der Tagtraum vom politischen Protest lenkte mich von den Symptomen der chronischen Krankheit ab. Denn auf den Heimweg überkam es mich mal wieder: Der Bauch grummelte, verkrampfte und schmerzte. Hilfe, Durchfall! In solchen Momenten kann ich an nichts anders mehr als ans Klo denken.
Man sagt, unsere ersten Erinnerung sind mit großen Gefühlen verknüpft: Anarchie (Babysitter überredet, länger wach zu bleiben), Liebe (Oma ist die Beste) oder wie bei mir Schmerz (Stumpfes Stechen, das vom Unter- in den Oberbauch zieht). Seit ich denken kann, leide ich unter Krämpfen und Blähungen. Im Alter von 16 Jahren kam dann der Durchfall dazu. Weshalb ich viele Stunden in sterilen Behandlungsräumen mit Plastikpflanzen und gruseligen Lebensweisheiten an den Wänden verbrachte. Die Beurteilung meiner Ärzt*innen waren genauso phantasielos wie ihre Einrichtungen: “Viele Menschen haben Bauchschmerzen, versuchen sie ab 16 Uhr nichts mehr zu essen”, “Das ist bestimmt psychosomatisch, machen sie Yoga”, “Sie vertragen keinen Milchzucker”, “Milchzucker-Blocker bringen nichts? Dann blocken sie mal den Traubenzucker”, “Hemmer wie Pantoprazol und Schmerzmittel gehen immer”.
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Frauen werden nicht ernst genommen.
“Bumbberle” nannte mein Vater meine Beschwernis. Ganz ähnlich wie die Ärzt*innen bezichtigte er mich dadurch, dramatisch und überemotional zu sein. Die bisschen Bauchschmerzen würde ich schon aushalten können. Ich sollte einfach mal die Zähne zusammenbeißen. Studien wie die der University of Maryland belegen die geschlechterbezogene Voreingenommenheit von Ärzt*innen inzwischen: Frauen werden im Schnitt deutlich später behandelt als Männer. Bis heute beobachte ich, wie erkrankte Freundinnen in ihren Alltag zurückgeschickt werden – bis sie auf der Intensivstation landen. Dass das alles systematisch und sexistisch ist, verstand ich mit 16 noch nicht. Dass mir nur ein objektiver Beweis daraus helfen würde, hingegen schon.
Ich ließ mir eine Überweisung zum Gastroenterologen ausstellen. Bald kam ich zu der Erkenntnis, dass Medizin zwei Klassen hat. Denn die Güte meiner Versorgung hängt leider auch davon ab, ob ich privat oder gesetzlich versichert bin. Was sich deutlich in Behandlungszeit und Terminfindung widerspiegelte. Obwohl meine Beschwerden akut waren, musste ich noch fünf Monate auf die Magen- und Darmspiegelung warten. “Magenschleimhautentzündung”, lautete das Ergebnis. Es war ernüchternd. Für die folgenden sechs Wochen bekam ich wieder ein Pantoprazol-Ibuprofen-Cocktail. Irgendwann resignierte ich. Ich fand mich damit ab, dass irgendwas in mir kaputt war. Mich schon nicht umbringen würde. Und wenn doch, hätte ich ja eh nicht gerettet werden können. Denn wie will man einen drohenden Tod verhindern, ohne dessen Ursache zu kennen?
Mein Exfreund wollte sich nicht damit abfinden. Schließlich beobachtete er mein Leid täglich. Er hatte sogar das Gefühl, dass es schlimmer wurde. Weshalb er mich erneut zum Gastroenterologen zerrte. Da er aus gutem Hause kam, ließ er seine Kontakte spielen. Ein Telefonanruf bei dem Vater eines Mannschaftskollegen später, hatte ich einen Beratungstermin. Einige Wochen darauf schob der Promi-Arzt mich schon in den Operationssaal. Wenige Tage später erhielt ich die Diagnose: “Sie haben eine chronische und unheilbare Krankheit, die sich Morbus Crohn nennt. Wenn sie etwas auf sich aufpassen, können sie damit leben.” So sehr wie ich mich über die Gewissheit freute, so sehr wünschte ich mir auch die falsche Magenschleimhautentzündung zurück.
Ich muss lernen, damit zu leben.
Das Besondere an meiner Krankheit ist, dass sie in Schüben verläuft. Während Morbus Crohn bei Männern schon im Jugendalter auftaucht, erhalten Frauen die Diagnose erst in ihren Zwanzigern. Eine wissenschaftliche Erklärung dafür gibt es bis heute nicht. Insgesamt ist die Krankheit fast gleich zwischen den Geschlechtern verteilt. In den häufigeren Fällen liegt die Ursache, also die Entzündung, zwischen Dünn- und Dickdarm. Die Dauer eines Schubes ist ziemlich individuell. Ich quäle mich maximal fünf Monate im Jahr damit herum. Eine betroffene Freundin bis zu neun.
Hört ein Schub nach fünf Wochen noch nicht auf, bekomme ich eine Cortisonspritze. Meine Gefühle für das Steroidhormon sind ganz unterschiedlich. Einerseits hasse ich es, weil es aus mir ein Michelin-Männchen mit Mondgesicht macht. Andererseits ist es meine letzte Rettung, stoppt meinen Schmerz und bringt mich in die Normalität zurück. Noch bevor es mich aufputscht, macht es mich blass, müde, schwach, langsam und aufgedunsen. Freund*innen und Bekannte erinnern mich zudem fleißig an weitere Nebenwirkungen: “Du hast aber schnell viele Kilos zugenommen”, heißt es. “Ach herrje, du bist wieder so langsam.” Manchmal wirkt ein Schub so stark nach, das einfachste Aufgaben wie Geschirr zu spülen oder den Müll herunterzubringen zu meiner Herausforderung werden.
Da man mir auch sonst nicht ansieht, dass ich krank bin, stoße ich im Alltag oft auf Verständnislosigkeit. Alte, ebenfalls eingeschränkte Menschen, halten mich für unverschämt, wenn ich in der Bahn sitzen bleibe. Wenn ich nicht für sie aufstehe, weil ich gerade Schmerzen habe. Wenn ich sie dann aufkläre, wenden sie sich ohne ein weiteres Wort ab, schütteln den Kopf und lassen meistens noch einen bösen Spruch los. Manchmal verurteilen sie mich sogar zur Lügnerin. Schließlich sei ich viel zu jung, um richtig krank zu sein.
Ich bin nicht behindert, ihr macht mich zur Behinderten.
Meine Familie und Freund*innen sind mittlerweile eingeweiht. Viele von ihnen bemühen sich vorbildlich, meine Beeinträchtigung im Alltag zu berücksichtigen. Sie informieren sich sogar im Netz und lesen die Apotheken Umschau. In ihrer Planung von Kurztrips oder Urlauben beachten sie die Toilettensituation. Dass ein Dixi-Klo meine wahr gewordene Hölle ist, wissen sie. Es sind vielmehr meine spontanen Absagen, die ihre Geduld strapazieren. Auch, wenn es für sie deutlich angenehmer sein muss, ihre Abende noch anders verplanen zu können als stundenlange darauf zu warten, dass ich das Badezimmer verlasse. Wenn ich mich dann nicht ausführlich rechtfertige, verschärft sich ihre Wut, es herrscht nur noch Unverständnis. Nicht selten brechen Menschen dann den Kontakt zu mir ab. Dass die Funkstille so was wie ein sozialer Ausschluss ist, bei dem sie mir den Stempel “der Behinderten” erst auf die Stirn kleben, scheint ihnen nicht bewusst zu sein.
Apropos Bewusstsein: Auch Gesellschaft und Politik stecken in Sachen Morbus Crohn noch völlig in den Kinderschuhen. Das beweist mir der Display der Sanitäranlage im Hauptbahnhof immer wieder aufs Neue. Wenn dort “1 Euro” aufpoppt und in mir die kalte Ohnmacht. Gefolgt von Angst vor stärkeren Schmerzen oder davor, mir in aller Öffentlichkeit in die Hose zu machen. Ich bin allein mit meiner Krankheit und deswegen hilflos. Ich zahle den Euro und halte meine Klappe. Wenn ich mich öffentlich beschwere, werde ich immer auf Internetforen oder Selbsthilfegruppen aufmerksam gemacht. Natürlich kann ein Austausch mit anderen Betroffenen empowernd sein, meine Einschränkungen im Alltag werden dadurch aber nicht weniger – meine Krankheit ist unheilbar. Wenn sich keine*r für Menschen wie mich verantwortlich fühlt, bleiben wir weiterhin unsichtbar und benachteiligt. Wenn aber alle auf Rolltreppen und Fahrstühle achten, sind sie künftig vermutlich kürzer defekt oder wirklich überall vorzufinden. Vielleicht braucht es aber radikale Maßnahmen wie den Kuhmist im Hauptbahnhof, damit wir endlich sichtbar für euch werden und unsere Leben barrierefrei. Wer macht mit?
*Die Autorin möchte anonym bleiben