„Corona, Corona“, höre ich. Ich bin ungefähr 200 Meter entfernt, aber die Rufe werden immer lauter. „Corona, Coronavirus!“, jetzt hat sich bereits die gesamte Kreuzung nach mir umgedreht. Einige der rufenden Männer stehen auf und zeigen mit dem Finger auf mich. Ich weiß nicht, ob ich langsamer oder schneller laufen soll und will am liebsten im Erdboden versinken. Jemand auf meiner Straßenseite ruft zurück: „Lass das, sie ist hier schon über einen Monat, sie hat es nicht!“ Die Rufe verstimmen, ich laufe weiter, eine Frau lächelt mich mitfühlend an.
Seit dem 18. März hat Kamerun aufgrund des Coronavirus seine Grenzen geschlossen, um die Ausbreitung des Virus präventiv einzudämmen. Denn alle bis dahin gemeldeten Fälle wurden von Menschen, die aus Europa nach Kamerun eingereist waren, ins Land gebracht. Für asiatisch und weiß gelesene Menschen ist der Gang nach draußen seitdem nicht immer angenehm. Aus allen Teilen des Landes gibt es Zeugnisse von verbalen Übergriffen. Viele deutsche Medien berichteten darüber. Auch die Deutsche Botschaft in Kamerun hat sich per Mail schnell bei denjenigen gemeldet, die sich bei ihnen auf der Liste eingetragen hatten: Auf Grund von „Halbwahrheiten“, die vor allem in den Medien verbreitet würden, würden „rassistische Ressentiments innerhalb der Bevölkerung“ geschürt, „die die Sicherheit unserer Landsleute beeinträchtigen“. Die Nachricht macht mich stutzig. Eine offizielle Institution beschreibt die Reaktionen auf das Ausbrechen einer Krankheit in einem ehemals auch von Deutschland kolonialisierten Land als Rassismus?
___STEADY_PAYWALL___
Die Bezeichnung von einem neuen Rassismus ist gefährlich
Ich schreibe höflich zurück. Ich erkläre, dass die Situation auch für mich belastend ist. Dass ich aber darauf hinweisen möchte, dass ich das Vorhergehen der Deutschen Botschaft, das Verhalten der kamerunischen Bevölkerung als Rassismus zu bezeichnen, gefährlich finde, da es nicht nur im Kontext des theoretischen Diskurses falsch ist, sondern meines Erachtens Rechtspopulist*innen in die Hände spielt. Die Antwort der Botschaft lässt nicht lange auf sich warten: Es gäbe einen „neuen Rassismus in Afrika“ und die Botschaft habe „Beweise, dass gezielt `Weiße` aus rassistischen Gründen angegriffen würden“. Weiße schreibt die Botschaft in Anführungszeichen. Das Wort Corona hätten sie absichtlich in der Mail weggelassen, aber es gäbe „in Kamerun Gruppierungen, die sich eines völlig inakzeptablen und bewusst rassistischen Duktus bedienen und genau jetzt die Zeit für ihre unsägliche Propaganda nutzen.“
Die Deutsche Botschaft in Kamerun ist nicht nur der festen Überzeugung, dass reverse racism existiert, sondern, dass er strukturiert und organisiert wäre. Rassismus ist als Ideologie entstanden, die das koloniale System und seine Ausbeutungsformen legitimiert hat. Rassistische Begriffe und rassistisches Verhalten stehen in einem geschichtlichen Kontext der Erniedrigung und Ausbeutung und einer gesellschaftlichen Realität, die systematisch von Ausschlüssen, Vorurteilen und Benachteiligungen gegenüber nicht-weißen Menschen geprägt ist. In meinen Augen grenzt es an Geschichtsrevisionismus, den Begriff des Rassismus im Kontext von Anfeindungen gegenüber weißen Menschen zu benutzen.
Beim Lesen der Mail wird man das Gefühl nicht los, dass die Verfasserin endlich mal all das sagen kann, was ihr eh schon auf der Seele brannte. Das ist erstaunlich, vor allem für jemanden, der als weiße Person hier vor Ort zu leben scheint. In einem System, dass nach wie vor von seiner langjährigen deutschen, französischen und englischen Kolonialbesatzung geprägt ist, in dem weiße Menschen ökonomisch privilegiert leben und mehrheitlich vor allem in Entscheidungspositionen arbeiten. Als weiße Person ist man in Kamerun aber nicht nur finanziell privilegiert und sitzt überdurchschnittlich häufig in Machtpositionen. Stichwort white privilige: Man wird im öffentlichen Leben bevorzugt, bei Kontrollen kann es passieren, dass man einfach durchgewinkt wird und im alltäglichen Leben bekommt man als weiße Person häufig gesagt wie schön man doch sei. All das sind bittere Pillen aus Kolonialzeiten, die sich bis heute fortschreiben: Korrupte Grenzbeamte, ein Bildungssystem, das Europa über alles stellt und das Hochhalten weißer Schönheitsideale.
Es gibt wichtigere Diskurse
Natürlich existiert auch in Kamerun seit Jahrzehnten ein lebendiger Diskurs über den Umgang mit der Kolonialgeschichte. In den letzten Jahren ist dies aber nicht mehr nur ein Kreis Intellektueller, sondern wird in der Mehrheitsgesellschaft geführt. Junge Menschen kritisieren das koloniale Bildungssystem, den Einfluss Frankreichs, der in dem Land nach wie vor noch sehr stark ist. Es gibt eine neue Generation junger selbstbewusster Kameruner*innen aus allen sozialen Schichten, die die kolonialen Muster hinter sich lassen wollen. Und unter ihnen gibt es auch Kameruner*innen, die weißen Menschen mit einer gewissen Skepsis begegnen. 70 Jahre Kolonialherrschaft und danach Generationen weißer Menschen, die sich in einem neokolonialen besserwisserischen Duktus verhalten haben, sind daran nicht ganz unschuldig. In einem Land, das ökonomisch stagniert und das weiterhin maßgeblich durch koloniale Strukturen geprägt ist, gibt es sicher wichtigere Diskurse, als einen angeblichen „neuen Rassismus gegen Weiße“. Gerade in Zeiten der Coronakrise, in der vor allem ökonomisch schwächere Menschen das Nachsehen haben und die Krise nicht einfach zu Hause aussitzen können. In Kamerun sind nach offiziellen Angaben 90 Prozent der Menschen im informellen Sektor beschäftigt. Viele von ihnen haben keine finanziellen Rücklagen und nicht die Möglichkeit, ihre Arbeit niederzulegen, um sich präventiv zu schützen. Dies versetzt sie unweigerlich in eine sehr prekäre Situation. Auch wenn die Zahl der Infizierten im Vergleich zu anderen Ländern noch gering ist, steigen die Fallzahlen derzeit rapide an und der Schutz der Bevölkerung sollte den öffentlichen Diskurs derzeit eigentlich dominieren.