Freiliegende Nasen oder fehlende Masken in der Bahn, unterschrittene Mindestabstände auf Privatfeiern, der obligatorische Flug in den Sommerurlaub oder Raven bis zum zweiten Lockdown: obwohl die Corona-Fallzahlen zum Herbst wieder rapide ansteigen und beinahe 10.000 Menschen in Deutschland an Covid19 verstorben sind, lässt die Hygienedisziplin vieler Leute zu wünschen übrig. Wie kann es sein, dass die Menschen scheinbar keine Verbindung zwischen dem Leid der Betroffenen und ihrem eigenen Verhalten erkennen? Eine alte Überlegung von Karl Marx könnte hier weiterhelfen: in kapitalistischen Gesellschaften hindert Entfremdung die Menschen daran, sich wie Menschen zueinander zu verhalten.
Als im Frühjahr die Einführung der Maskenpflicht als Maßnahme gegen das Coronavirus diskutiert wurde, gab es ein interessantes, von vielen Menschen vorgebrachtes Gegenargument: Dass die Maske gar nicht sinnvoll sei, da sie nur andere Menschen, nicht aber einen selber vor dem Virus schütze.
Was freut mich das Glück der anderen?
Mit diesem „Argument“ gegen die Maske sprachen die Leute unfreiwillig die Moral kapitalistischer Gesellschaften aus. Diese besagt, dass die Menschen vereinzelt und individuell nach Einkommen und Glück streben sollen. Am Glück anderer könnten sie selber kein Glück haben. So war es für viele mit dem Auftreten des Virus zunächst schwer zu erkennen, dass die eigene Gesundheit nur gewahrt werden kann, wenn die Gesundheit aller anderen gewahrt wird. Indem ich andere davor schütze, sich bei mir anzustecken, schütze ich mich, mich bei ihnen anzustecken.
Als erste deutsche Stadt führte Jena Anfang April eine Maskenpflicht in der Öffentlichkeit ein. Das hat es Forscher*innen erlaubt, zu belegen, wie wirksam der Mund-Nasen-Schutz im Alltag ist: In Jena hatte sich seit Einführung der Maskenpflicht die Ausbreitung des Virus stark verlangsamt, während die Zahlen andernorts weiter rapide angestiegen waren. Die Medien sind gerade voll von solchen wissenschaftlichen Erkenntnissen. Jede*r kann also um den starken Nutzen der Maske und anderer Alltagsmaßnahmen wissen.
Und dennoch hält sich beispielsweise im Berliner Nahverkehr manchmal nur die Hälfte der Fahrgäste an die Maskenpflicht. Obwohl der Mund-Nasen-Schutz in der Bahn von niemandem mehr ernsthaft wissenschaftlich angezweifelt wird, interessiert das anscheinend Millionen Deutsche nicht. Wie kann man die Form einer Gesellschaft beschreiben, in der so etwas Unvernünftiges möglich ist?
Das Gefühl, damit nichts zu tun zu haben
In den „philosophisch-ökonomischen Manuskripten“ aus dem Jahr 1844 versuchte Karl Marx, die Form, wie Menschen im Kapitalismus zusammenleben, aus der Lohnarbeit abzuleiten. Weil die Arbeiter*innen im Kapitalismus nichts besitzen außer ihrer Arbeitskraft, müssen sie an Maschinen und in Fabriken arbeiten, die ihnen selber nicht gehören. In früheren Epochen hatten viele Menschen die Grundlagen ihrer Arbeit noch selber besessen. Oft arbeiteten sie in ihrem eigenen Haus oder Bauernhof. Im Kapitalismus entstand also eine Trennung der Arbeiter*innen von dem, was sie produzieren: sie weben in einer fremden Fabrik fremdes Garn an fremden Webstühlen.
Das Produkt ihrer Arbeit, etwa ein Kleidungsstück, wird in dem Moment, in dem sie es produzieren, Eigentum des Fabrikbesitzers. Es wird ihnen fremd, es entfremdet sich. Marx meint also, dass wir es mit „entfremdeter Arbeit“ zu tun haben: zwar fließt die eigene Kraft in mein Werkstück, aber sie gehört dann auch nicht mehr mir. Schlimmer noch: der Lohn, den die Arbeiter*innen dafür erhalten, reicht nicht aus, all die produzierten Werkstücke zurückzukaufen. Er ist stets kleiner als der Preis meiner Produkte.
Die Arbeiter*innen produzieren also einen riesigen Berg aus Reichtümern. Sie sind von diesem Berg aber ausgeschlossen, denn sie können ihn nicht zurückkaufen. Tag für Tag türmt sich der fremde Berg aus Reichtümern weiter auf, bildet Häuser, Mauern, Burganlagen, Paläste und schließlich Staaten. All diese Dinge gehören aber nicht denjenigen, die sie aufgebaut haben. Die Menschen und das Produkt ihrer Arbeit haben sich einander entfremdet. Marx nannte das 1844 noch „entfremdete Arbeit“.
Aus dieser ersten Dimension der Entfremdung, nämlich der Entfremdung vom Produkt der Arbeit, leitete Marx schließlich drei weitere Formen ab. Wenn man vorwiegend den Reichtum anderer Menschen produziert, beginnt sich auch die Produktion selbst, also die Anstrengung der eigenen Arbeitskraft, fremd anzufühlen. Zu arbeiten dient nicht mehr unmittelbar dem ursprünglichen Zweck, nämlich den Menschen zu ernähren, ihm ein Dach zu bieten und so weiter.
Reichtum für andere schaffen
Die Natur des Menschen ist es aber, so Marx, sich sein Überleben durch Arbeit an der ihn umgebenden Natur zu sichern. Im Gegensatz zum Menschen lebt das Tier unmittelbar in der Natur. Es findet seine Lebensgrundlage vor, muss sie nicht erst zubereiten, ehe es sie verzehrt. Der Mensch jedoch verfügt über ein Bewusstsein: er muss seine geistigen Kräfte anstrengen, um sich in der Natur zurechtzufinden. Wenn man Hütten bauen will, muss man einen ungefähren Bauplan entwickeln, ehe die Hütte steht. Werkzeuge werden zu bestimmten Zwecken hergestellt. Marx sagt, der Mensch verhält sich in Freiheit zu den Dingen, mit und an denen er arbeitet. Man kann sich diesen Unterschied an Bienen klar machen: Die Insekten bauen zwar Bienenstöcke, um zu überleben. Der fertige Bienenstock erscheint aber nicht vorher vor ihrem geistigen Auge. Der Mensch ist so frei, er kann sogar aufhören zu arbeiten und sich entschließen, zu sterben.
Dieser prinzipiell freie Mensch muss im Kapitalismus jedoch sein Bewusstsein und seine Freiheit, also seine menschlichen Kräfte, dazu einsetzen, Reichtum für jemand anderes zu schaffen. Die prinzipielle Fähigkeit des Menschen, frei zu sein, wird im Kapitalismus dazu eingesetzt, etwas Unfreies zu tun: die Arbeit für jemand anderes. Marx behauptet, dass die Arbeit im Kapitalismus den Mensch als Menschen von sich selber entfremdet. Indem der Mensch also lohnarbeitet, entfernt er sich von seinen eigenen, spezifisch menschlichen Wesenskräften.
Zu weit weg von sich selbst
Wer jedoch, und das ist die vierte und letzte Dimension, keine Verbindung mehr zu sich selbst als menschlichem Wesen aufnehmen kann, kann dieses menschliche Wesen auch nicht mehr in anderen Menschen erkennen. Mit der Entfremdung vom Gattungswesen Mensch geht nach Marx die Entfremdung von anderen Menschen einher. Die Menschen dienen nur als Instrument in einem fremden Produktionsprozess. Entsprechend gelten ihnen andere Menschen auch zuerst als Instrumente für ihre eigenen Interessen.
Vielleicht wäre das eingangs genannte, schlechte Argument gegen die Maske auch so zu verstehen: Die Menschen im Kapitalismus instrumentalisieren sich gegenseitig, statt sich in anderen Menschen selbst wieder zu erkennen. Deshalb verstehen sie nicht, inwiefern es ihnen selber nützt, wenn sie andere vor dem Virus schützen. Wir als Menschheit sollten also dafür sorgen, dass möglichst wenige von uns leiden und sterben müssen: nicht einfach, weil es uns selber nutzt, sondern weil wir uns in den anderen, den kranken, den schwachen, den sozial ausgegrenzten Menschen selber erblicken.