Are you ready to go on and write now?”
Herman Melville: Bartleby, the Scrivene
Es war einmal ein Wort, das trat in mein Leben und brachte schon einen komischen Beiklang mit: Es schwang von Anfang an etwas Dubioses, sogar Ironisches mit. Ein Ideal, an dessen Verwirklichung ich nicht glauben konnte, obwohl so viele davon träumten und sprachen.
Doch lange bevor das Wort in mein Leben trat, hatte ich das Konzept schon verinnerlicht. 1989 sagte meine Lehrerin zu uns: „Wenn ihr immer fleißig seid und gute Zensuren bekommt, dann könnt ihr später, wenn ihr groß seid, werden, was ihr wollt.“ Sie meinte damit natürlich unseren Wunschberuf. Und ich war von dieser Idee begeistert.
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Und bis heute ist Arbeit für mich oft ein Durchhalten, das Absitzen einer Frist. Bis zum Verstreichen einer Deadline
Es ging streng genommen ums Überleben. Natürlich ein paar Sahnehäubchen hier und da, die das Durchhalten anheizen sollten. Und bis heute ist Arbeit für mich oft ein Durchhalten, das Absitzen einer Frist. Bis zum Verstreichen einer Deadline. Bis zum nächsten besseren Job. Bis zur Rückmeldung auf eine hoffnungsvollere Bewerbung. Bis zur märchenhaften Rente.
Aber ich glaubte meiner Lehrerin, war fleißig und bekam gute und sehr gute Zensuren. Machte Abitur. Dabei hatte ich das ominöse „was ich wollte“ nie als Karriere, Perspektive oder Sicherheit verstanden. Sondern als eine übergroße köstliche Belohnungspraline, ausschließlich zum Genuss, nicht als weiteres Mittel zum Zweck. Also studierte ich nicht BWL oder Jura, sondern Philosophie.
Während des Studiums raunten viele Stimmen, wie aussichtslos dieses Studium sei. Sie spukten um mich herum wie dunkle Propheten und ich verscheuchte sie. Sie raunten erneut: Ich müsse mich außerhalb des Studiums weiterbilden, PC-Programme lernen, Praktika machen, Kontakte knüpfen, ins Ausland gehen. Sonst sei mein Studium nichts wert. Sonst sei ich auf dem Arbeitsmarkt später nichts wert. Ich verscheuchte sie erneut: Kommt Zeit, kommt Rat.
Die Stimmen hatten vergessen, dass nichts, keine Qualifikation, keine Strategie etwas daran ändert, dass man erwachsen wird. Später raunten verwandte Stimmen: Rente. Kinder. Zukunft. Und dann mischte sich die alte vertraute Stimme hinzu, die eine neue Färbung bekommen hatte: Selbstverwirklichung.
Schreiben vielleicht. Filme machen. Für eine NGO arbeiten. Die Ausschreibungen klingen beim ersten Lesen sympathisch. Oft wird man direkt geduzt. Manchmal werden flache Hierarchien und Bio-Frühstück versprochen. Aber immer soll man „brennen“ für irgendwas: Politik oder Promi-Gossip, Mode oder Finanzen. „Querdenker m/w“ soll man sein, die Dinge anpacken, Mehraufwand nicht scheuen.
„Stressresistenz“ ist eines meiner Lieblingshassworte
Am besten superfrisch und unverdorben mit fünf Jahren Berufserfahrung. Nach dem tausendsten Lesen salbe ich meine Wunden mit Stellenangeboten für Bürokaufmänner und -frauen. Die sind wenigstens sachlich.
Beruflich schreiben zu wollen, führt über eine bunt schimmernde Abkürzung in die Marketing-Ecke. Hier versprechen die Stimmen Geld für schnelle Worte über Seifen oder Garagendächer. Ich betrete einen Empfangsraum im Lounge-Stil mit stylischen Möbeln, Obstschalen und einem riesigen Flatscreen. Darauf sind in steil steigenden Kurven die wachsenden Umsätze eines Start-ups zu sehen. Klickzahlen müssen erhöht werden. Kund*innen mit Schlüsselbegriffen zum Kauf animiert werden. SEO ist eines der Zauberworte. Jeden Monat soll ich mich und meine Erfolgsquote selbst übertreffen.
„we believe that the future of home and living marketplaces is mobile and that customers deserve a most intuitive, personalized and inspiring shopping experience“
„Wir suchen Visionäre, Anpacker und Macher, keine Nörgler und Neinsager.“
„Du erkennst Erfolgspotentiale und schöpfst sie auch aus. Du entwickelst den Kern aller erfolgversprechenden Marketing- und Kommunikationsmaßnahmen entscheidend mit.“
Also trete ich einen Schritt zurück, übe mehr Geduld zu üben, bewerbe mich weiter. Bei sozialen und ökologischen Institutionen. Bei Plattformen mit verheißungsvollen Namen: Jobs mit Sinn, The Changer, Greenjobs, Nachhaltige Jobs, Diversity Jobs, Good Jobs.
Soweit der Sinn. Doch noch einen Schritt zurück. Sinn oder Sinnsuche ist für jene, die wie ich versprochen bekommen haben, irgendwann dürften sie machen, „was sie wollen“. Nicht im anarchistischen, nicht im gierigen, sondern im beruflichen Sinne der Phrase. Für jene, die wie ich das Märchen von der Selbstverwirklichung (im Beruf) verinnerlicht haben.
Das Selbst, ein inneres echtes Ich, das erkannt und ausgelebt werden will, soll maßgeblich darüber bestimmen, wie viel ich wofür arbeiten will. Am besten mit Leidenschaft, nicht mit Pragmatismus, Stoizismus, Resignation. Dieses scheinbar im Beruflichen aufblühende Ich hat klammheimlich längst die Form eines Produkts angenommen, das man kaufen oder verkaufen kann. Deswegen sind Bewerbungen Marketingtexte. Deswegen sind soziale Online-Profile Produktplattformen. Deswegen ringe ich auf meinem Facebook-Account um blaue Daumen und verteile auf Ebay Sterne. Doch das ist nur die erste Welle. In der zweiten ist diese Überlegung schon enthalten, überholt und korrigiert. Arbeitende dürfen wieder Menschen sein.
In seinem Artikel Wofür arbeiten wir eigentlich? bedauert „Unternehmensphilosoph“ Dominic Veken „die Unzufriedenheit, oder besser gesagt: die fehlende Identifikation mit dem, was man tut und mit dem Unternehmen, für das man arbeitet.“ 1 Er schlägt Unternehmen vor, die großen Fragen zu stellen: Was ist unser inneres Anliegen? Wofür stehen wir als Unternehmen? Und: Wofür arbeiten wir eigentlich? Das sind die Fragen nach dem Sinn des Unternehmens – große, ja durchaus philosophische Fragen, die einen inneren Kompass ermöglichen, die einem sagen, was richtig und was falsch ist und die langfristig Glück und Begeisterung zu erzeugen vermögen: für die Mitarbeiter, für die Führungskräfte, für die Kunden und letztlich auch für die Aktionäre.
Als Erfolgsbeispiel nennt er u. a. einen Schuhversand, der sich diese tiefsinnigen Fragen gestellt und beantwortet habe. Durch das große Ziel Delivering Happiness wurde „das Erwirtschaften von Profiten extrem erfolgreich [zu einem] Nebenprodukt beim Erfüllen eines echten Sinns deklariert“. Arbeitnehmer*innen sind demnach also glücklicher, identifizieren sich mit ihrem Unternehmen und haben das zutiefst zufriedenstellende Gefühl, einer sinnstiftenden Tätigkeit nachzugehen, weil sie Kund*innen mit Glück (also mit Schuhen) beliefern.
Mich beschleicht das Gefühl, Veken hat selbst eine Sinnkrise und versucht sich aus dieser mit einem verkappten Marketingtext für seinen eigenen Berufsstand herauszuschreiben.
Zu Herzen genommen hat sich Venkens Rat scheinbar die Bundeswehr. Die aufgeblasene Kampagne „Mach, was wirklich zählt“ dürfte ganz in seinem Sinn sein. Zufällig, kurz bevor es nach Syrien geht. Für die Selbstverwirklichung syrischer und anderer Geflüchteter in Deutschland bleibt da nicht viel Kapazität.
Neben dem Sinn wird die Zeit bzw. die sogenannte Work-Life-Balance als ein Aspekt der Selbstverwirklichung verstanden und bezieht schon die Möglichkeit ein, dass das Selbstverwirklichungsprojekt bei aller Motivation nicht allein und vielleicht auch nicht hauptsächlich vom Beruf gestemmt werden kann.
Das Möbelhaus Ikea verspricht, dass seine Küchen so billig sind, dass man weniger dafür arbeiten muss und deswegen mehr vom Leben hat.2
Zehn Stunden pro Woche recherchiere ich Geschäftskontakte für eine Unternehmerin. Eine Ikea-Küche könnte ich mir damit nicht leisten. Ich stelle mir einen hart arbeitenden Menschen vor.
Was ist eigentlich „harte“ Arbeit? 6.000 xing-Kontakte zu kopieren und einzufügen. Retail. Buying. Sales. Purchaise.
Senior Controller Working Capital Manager Collection & Product Development Systems Senior Country Merchandiser & Sales Eastern Europe & CIS Request Fulfillment Manager Team Leader Talent Sourcer.3 Ich frage mich, ob diese Arbeitnehmer*innen glücklich sind. Ob ihnen ihre Arbeit Spaß macht. Ob ihnen ihr Unternehmen große Sinnfragen beantwortet.
Ich erinnere mich an Kolleg*innen, die besonders stolz waren, wenn sie besonders erschöpft nach besonders vielen Überstunden nach Hause gingen. Gerne hätte ich mal in einem Vorstellungsgespräch gesagt, dass ich ein gutes Gespür für das Einteilen meiner kreativen Ressourcen habe und weiß, wann ich Erholung benötige.
Mich plagt die Frage, ob die große Sinnsuche doch ein Luxusproblem ist, aber auch die hinterher stolpernde Frage, ob ich überhaupt in einer Gesellschaft lebensfähig wäre, die nicht zumindest ein wenig Spielraum für das Konzept Selbstverwirklichung lässt. Ich schätze mich glücklich, diese Fragen stellen zu können, auch wenn ich mit den Antworten bisher unzufrieden bin.
Diana Arnold lebt in Dresden, arbeitet als Online-Redakteurin und schreibt unregelmäßig für das Online-Magazin GIER.