Wer verstehen will, wie Populisten ticken, muss ganz nah an sie heran. Muss dabei sein, wenn sie lachen, weinen, trinken und Zähne putzen. Wie gut ist Matthias Matussek im Schach? Träumt Götz Kubitschek von elektronischen Ziegen? Aus der Art und Weise, wie Martin Sellner ein Weinglas hält, können erfahrene Journalisten seine ganze Lebensphilosophie ableiten, können tief in seine Psyche eindringen und wertvolle Journalistenpreise abräumen.
Deswegen müssen wir immer näher ran an die Rechten. Denn nur, was wir verstehen, können wir auch bekämpfen. Je besser wir sie verstehen, umso besser können wir sie bekämpfen. Und volles Verständnis erreichen wir nur, wenn wir uns mit den Rechten direkt ins Bett legen. Nackig und mit anfassen! So verhindern wir übrigens auch, dass sie sich wieder als Opfer darstellen können: indem wir ihnen den roten Teppich ausrollen, ihnen die beste Sendezeit bieten. Gegen unsere Großzügigkeit sind sie machtlos!
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Für meine neueste Reportage habe auch ich dieses Wagnis unternommen.
Über sechs Jahre lang habe ich unter einem Decknamen recherchiert, bin tief in die rechte Szene eingedrungen. Als “Alexander Gauland” habe ich die rechtspopulistische Partei AfD so gut kennengelernt wie sonst niemand vor mir. Ich war auf Parteitagen, in Talkshows, bei Stammtischen – perfekt getarnt. So konnte ich aus erster Hand beobachten, wie die Rechte feiert, wie sie lebt, wie sie denkt.
Eine Arbeit, die immer auch eine Gratwanderung für mich darstellte. Gehst du hier nicht zu weit? Wahrst du hier noch die nötige journalistische Distanz? Solche und ähnliche Fragen bewegten mich, als ich mich für wichtige Parteiämter aufstellen ließ, Grundsatzentscheidungen fällte, gewaltige Summen an Spendengeldern unter meinen Anhängern verteilte. Und immer wieder musste ich mir klarmachen: Wenn du jetzt aufhörst, wenn du die Maske jetzt abnimmst, bringst du die Leserschaft um wertvolle Erkenntnisse, verletzt den Heiligen Eid des Journokrates, der da lautet: bei jeder Schweinerei mitmachen.
Deswegen war es mir so wichtig, ein Mandat als Bundestagsabgeordneter anzunehmen. Denn wie Rechtspopulisten im Parlament funktionieren würden, war zum damaligen Zeitpunkt noch völlig unbekannt. Stets leitete mich die Frage: Was würde mein Freund Raphael Thelen von der “Süddeutschen” an meiner Stelle tun? Und ich wusste sofort zu antworten: noch eine Flasche Rum für die Kameraden aufmachen, natürlich!
Überrascht war ich nur davon, wie viele andere noch auf meine Idee gekommen waren.
Kaum zwei Monate, nachdem wir zu Abgeordneten gewählt waren, erklärte mir Jörg Meuthen in einer Rum-durchzechten Nacht, dass auch er sich eine Tarnidentität aufgebaut habe. Sein wirklicher Name: Daniel Pascal-Zorn. Der Verfasser des Buchs “Mit Rechten reden” wollte für die Fortsetzung seines Bestsellers noch tiefer in rechte Gehirnwindungen eindringen als jemals zuvor. Er erklärte mir auch, dass hinter dem Pseudonym “Alice Weidel” in Wirklichkeit niemand Geringeres steckte als Melanie Amann, die Leiterin des Hauptstadtbüros des “Spiegel”! Auch sie hoffte auf exklusive Einblicke in eine politische Parallelwelt, die den meisten Bundesbürgern normalerweise verborgen bleibt – außer natürlich, sie interessieren sich für Politik.
Wir hörten uns um, bohrten kritisch weiter. So, wie wir es auf der Journalistenschule gelernt hatten. Nach und nach kam heraus: Sämtliche 91 Bundestagsabgeordneten der AfD sind in Wirklichkeit getarnte Journalisten. Journalisten auf der Suche nach der ganz großen rechten Homestory!
Natürlich waren wir alle kurz ein bisschen enttäuscht, als wir erfuhren, dass wir alle Kolleginnen und Kollegen waren.
Aber deswegen wollten wir die Flinte nicht ins Korn werfen. Wir haben uns zusammengesetzt, nach strengsten journalistischen Maßstäben debattiert – und sind zu der Überzeugung gekommen: Ja, wir machen weiter! Wir sind als Journalisten so gut, dass wir einfach weiter so tun können, als sympathisieren wir mit Nazis! Indem wir uns weiter perfekt in sie hineindenken! Wir beobachten uns selbst, beim Tennisspielen, beim Eiskunstlaufen, beim Tischtennis. Und denken weiter darüber nach: Wie würden wir ticken, wenn wir wirkliche Rechte wären? Und nicht einfach nur Leute, die so handeln und denken wie Rechte?
Wir machen weiter! Wir tun notfalls noch so als ob, wenn wir längst an der Macht sind. Einfach, um das Gedankenexperiment zu seinem logischen Ende zu bringen! Und um der Öffentlichkeit vor Augen zu führen, wie gefährlich wir wirklich sind.