Ich erinnere mich sehr gut an meine Kindheit und Jugend in einem kleinen, norddeutschen Dorf. Die meiste Zeit wollte ich eigentlich nur dort weg. Mit der Dorfgemeinschaft, quasi einer Miniatur von „Volksgemeinschaft“, konnte ich noch nie viel anfangen. Das wurde nicht gerade besser, als ich anfing mich politisch zu interessieren und zu engagieren. Antifa im Dorf? Geh doch lieber zur Dorfjugend oder zumindest zum Schützenverein.
Nachdem ich endlich mein Abitur geschafft hatte, was nicht ganz einfach ist, wenn man wie ich aus einer Arbeiter*innenfamilie kommt und zunächst „nur“ die Realschule besucht hat, wollte ich schnell weg. Die kleinbürgerliche, bäuerliche und dörfliche Umgebung konnte ich kaum noch ertragen. So ging ich in die große Stadt. Fast fünf Jahre und ein abgeschlossenes Studium später strapazieren andere Dinge meine Schmerzgrenze.
Auf der Suche nach der Fremde
Vor ein paar Wochen musste ich einige Zeit an einem besonders hässlichen Bahnhof verbringen (Hannover, ich meine dich) und habe mir für die Wartezeit eine Ausgabe des taz-Ablegers „FUTURZWEI“ gekauft. Es ging laut Titelblatt um die Jugend und Europa. Beim Blättern bin ich bei einem Artikel hängengeblieben, der mich bis heute beschäftigt. Unter der wunderbaren Überschrift „Ich wünsch mir einen fetten Mähdrescher“ beschreiben zwei Berliner Autorinnen eine Reise quer durch Deutschland, in deren Rahmen sie mit verschiedenen jungen Leuten über ihre Zukunftsvorstellungen sprechen wollten.
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Vollkommen entsetzt stellen sie dann im Gespräch mit einer Landjugendgruppe fest, dass diese jungen Menschen andere Fragen und Erwartungen an die Zukunft haben, als über Entwürfe für eine alternative Gesellschaft zu philosophieren. Im Laufe des Artikels geht es zu einer Gruppe Hauptschulabbrecher*innen, die ebenfalls mit anderen Problemen zu kämpfen haben. Zwar merken die Autorinnen selbst, dass sie „aneinander vorbeireden“, können allerdings nicht verstehen, woran das liegen könnte.
Deine Soja-Latte ist ein Privileg
Kann die Perspektivlosigkeit und Angst vielleicht mit dem Klimawandel erklärt werden, fragen sie Autorinnen. Ich frage mich hingegen immer wieder: Mit welcher Erwartungshaltung haben sich die Autorinnen eigentlich auf ihre Reise gemacht? Der Artikel liest sich zumindest sprachlich wie Berichte weißer Missionare, die paternalistisch die ach so faszinierenden „Wilden“ beschreiben, die ihnen so vollkommen fremd sind. Was mich daran so stört? Die Arroganz und das Unverständnis mit der linke Akademiker*innen weiten Teile der Gesellschaft begegnen.
Ihre Gedanken sind natürlich „wichtiger“ und „richtiger“ als Sorgen und Perspektiven von „Bauern“ oder „Hauptschulabrechern“. Und natürlich muss man diese so andersdenkenden Menschen irgendwie dazu bringen, auch so zu denken, wie man selbst und sie so zu „emanzipieren“. Das passt wunderbar in Muster, mit denen sich linke Studierende oder Akademiker*innen gegenseitig die Welt und ihre Mitmenschen erklären. Das zeugt oft von Unverständnis und der heimlichen Verachtung von Lebensformen, die nicht der eigenen entsprechen. Vegan leben, Bio einkaufen im „Unverpackt-Laden“, schicke Hipsterklamotten von Carhartt oder Fred Perry, Soja-Latte, abends unter Woche im Plenum diskutieren und danach noch etwas trinken gehen und den nächsten Tag dann im Bett verbringen: all das sind Privilegien.
In Städten Dieselfahrverbote zu fordern, ist einfach
Das schafft natürlich Räume, sich mehr Gedanken über unsere Gesellschaft und Perspektiven zu machen. Und das möchte ich nicht kleinreden. Nur müssen Menschen, die sich selbst auf die Fahne schreiben, verschiedene Lebensentwürfe zu achten und Gleichheit anzustreben, auch andere Entwürfe aushalten und ernst nehmen. Die Verachtung, mit denen urbane Akademiker*innen Armut oder dörfliches Leben betrachten, ist ein tiefgreifendes Problem und zeigt wie wenig egalitär und inklusiv die Diskurse in der Realität wirklich sind.
Ungefähr 70 Prozent der Deutschen leben laut einer Studie der ZEIT aus dem Jahr 2015 in Städten oder Dörfern, die weniger als 100.000 Einwohner*innen haben. Das steht im Gegensatz dazu, dass politische Entwürfe für Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der Gesellschaft meist in den urbanen Ballungsräumen diskutiert und entwickelt werden. Aber: Diese Ideen lassen sich nicht einfach auf andere Realitäten anwenden. Es ist einfach über Dieselfahrverbote zu diskutieren, wenn man in einer Stadt mit guten ÖPNV, Monatsticket, kurzen Wegen und Fahrradwegen wohnt. Nicht so einfach ist es, wenn man jeden Morgen viele Kilometer in die nächste Stadt pendeln muss, weil der Regionalbahnhof schon vor Jahren geschlossen wurde oder vielleicht auch nie existierte.
Aber hier leben, nein danke
Der Songtitel der Band Tocotronic bezieht sich auf den Lieblingssatz deutscher Tourist*innen im Ausland, erinnert aber auch an „Großstädter“, die mal einen Ausflug außerhalb der urbanen Zentren machen. Manchmal heißt es auch: „Hier leben? Das könnte ich nicht.“ Das erwartet ja auch niemand. Aber solche Sätze implizieren, dass das Leben auf dem Land schlechter ist, irgendwie minderwertiger. Es stellt euch, die ihr euch dieser Realität nicht aussetzen wollt, auf eine höhere Stufe.
Ich bin selbst Teil des Problems, das weiß ich. Ich bin ja selbst weggezogen und diesen Artikel schreibe ich gemütlich unter der Woche in der Universitätsbibliothek, trage einen Carhartt-Pulli und gehe vielleicht später noch etwas in meinem Lieblingscafé im Szenekiez trinken. Und das ist ja auch okay. Aber es ist auch nicht schlechter, sich einen fetten Mähdrescher zu wünschen.