Es ist Corona und mein 15-jähriger Sohn sagt mir, dass er keine Masken mehr übrig hat. „Wie“, rufe ich. „Wie das denn? Wir hatten doch so viele bestellt.“ Schlechte Sozialistin wie ich bin, hatte ich, als er anfing, die selbstgenähten Stoffmasken seiner Oma zu verweigern, billige im Internet bestellt. Ganz viele, ganz billig, ganz umweltschädlich. Diese Pandemie hat mich zur schlechten Sozialistin gemacht, ich gebe es zu. Ich wollte sie einfach überleben, das ist alles.
„Ich habe nur noch zwei…“, sagt er. „Okay“, sage ich. Fühle, wie die Panik in mir steigt. Morgen ist wieder Schule – morgen steigt er in die S-Bahn, in die U-Bahn, in den Bus. Sitzt mit anderen Kindern in einem Zimmer. Morgen braucht er eigentlich zwei Masken. „…die ich schon benutzt habe!“, sagt er.
„NEEEEEEEEEIN!“, rufe ich verzweifelt. „Du darfst die Einwegmasken nicht wiederverwenden, dann sind sie nicht mehr sicher. Ich koche dir eine Stoffmaske. Die, die deine Oma geschickt hat. Die sind ganz niedlich! Welche gefällt dir am besten? Ich koche dir deine Lieblingsmaske sauber.“
„Mama“, sagt er. „Ich bin ein Teenager, der zur Schule geht. In Neukölln. Ich darf keine niedlichen Masken tragen.“ Und dann kapituliere ich vor ihm. Das Bescheuertste an Teenagern ist nicht, dass sie Stoffmasken verweigern, weil diese zu niedlich sind. Sondern, dass man vor ihnen immer kapitulieren muss. Morgen ist wieder Schule. Er hat keine Masken mehr. Ich habe keine Wahl. Ich gehe zur Apotheke und kaufe mir, oder besser gesagt ihm, zehn Einwegmasken für zwölf Euro, und will dabei heulen. Zwölf Euro! So viel Geld, für so wenig Masken! Und zu Hause haben wir so viele akzeptable Masken, die er tragen könnte, wenn er nicht so bescheuert wäre.
Ich kann es mir kaum leisten, denke ich, einen Teenager in einer Pandemie zu haben. Ich denke an das Essen, an die Snacks, die er 20-mal am Tag essen möchte, an den Strom, das Wasser. Ich kann es mir gar nicht leisten, einen Teenager in einer Pandemie zu haben. Ich denke an die Windeln, die wir für mein anderes Kind benutzt haben, und dann entscheide ich mich: Ich kann es mir nicht leisten, eine Mama in einer Pandemie zu sein.
Es ist eigentlich normal, dass Teenager bescheuert sind. Ich finde es ehrlich gesagt schade, dass unsere Teenies gerade viel zu wenige bescheuerte Dinge machen dürfen. Es macht mich irgendwie traurig. Als ich in dem Alter war, haben wir an den Gashähnen im Chemielabor gelutscht, weil wir dachten, dass wir high werden könnten. Wir haben versucht, uns mit Zirkel und Kugelschreiber unsere crushes zu tättowieren (habe immer noch eine sehr unspektakuläre Narbe davon). Ich finde es nicht gut, dass wir so bescheuert gewesen sind. Ich finde es nicht okay, dass Teenager so dumme Sachen tun. Ich finde es nur irgendwie unvermeidlich. Und ich finde es scheiße, dass Deutschland gerade so viele bescheuerte Dinge macht. Überlasst das doch den Teenagern!
Und überhaupt, es ist nicht mehr 2020. Merkt man, ne, jeden Tag: wir klatschen nicht mehr für die Pfleger*innen. Die Tiktoks, die man macht, sind dunkler geworden. Es sterben jeden Tag ungefähr eintausend Menschen. Und wir sind einfach müde. Ich bin auf Hartz IV gewechselt und habe immer noch das Gefühl, dass ich mir diese Pandemie nicht leisten kann. Diese Pandemie, die uns zu schlechten Sozialisten gemacht hat.
Seit fast einem Jahr schreiben Menschen bescheuerte Sachen in Kolumnen oder auf Facebook: Menschen, die ziemlich viel Geld haben und ziemlich viel Prosecco trinken, schreiben, dass Menschen mit ziemlich viel Geld, die ziemlich viel Prosecco trinken, Menschen ohne Geld und ohne Prosecco anschreien würden, dass sie zu Hause bleiben sollen. Wie unsolidarisch.
Es scheint mir so, dass niemand in Deutschland gecheckt hat, dass die Wahl nicht nur zwischen unsolidarischen Maßnahmen oder gar keinen Maßnahmen besteht. Stattdessen haben wir die Wahl zwischen solidarischen und unsolidarischen Maßnahmen. Denn wer kann sich diese Pandemie überhaupt leisten? Meine Freundin, die normalerweise von Arbeit in einer Bar und Kinderunterhalt lebt, jedenfalls nicht. Eine andere Freundin, die Kindergeld und Unterhalt mit Sex-Arbeit aufstockt auch nicht. Ein Kumpel, der normalerweise Hunde Gassi führt, einen Minijob hat, und der in Nicht-Corona-Zeiten wegen seines Uniabschlusses als privilegiert gilt, kann es sich gar nicht leisten. Aber wisst ihr, wer sich diese Pandemie leisten könnte? Wenn sie es wollte? Die Bundesrepublik Deutschland, that’s fucking who.
Wir stehen nicht vor der Wahl: Hunger oder Corona, krank werden oder arm werden. Und wenn wir da stehen, dann ist es gewollt. Dass Angela Merkel nicht an ein Corona-Kindergeld oder ein bedingungsloses Grundeinkommen denkt, ist irgendwie verständlich, sie ist konservativ. Aber dass die Linke in Deutschland da mitmacht, verstehe ich nicht.
Denn wir sind schlechte Sozialisten, wenn wir statt unsolidarischer Maßnahmen keine Maßnahmen fordern. Wir brauchen, solange bis Corona besiegt ist: ein Corona-Kindergeld, das für die Kinder gedacht ist, und bei den Menschen, die die Kinder erziehen, ankommen sollte. Ab 800 Euro pro Kind. Ein bedingungsloses Grundeinkommen für alle, die in diesem Land gemeldet sind, auch wenn sie nur halb-legal oder sogar illegalisiert hier sind. Essensmarken oder ein Corona-Essensbonus von 100 Euro für alle Hartz-IV-Empfänger*innen, Essenspakete für Menschen über 65, und alle, die zu Risikogruppen gehören. Leere Hotels sollen nicht Frauenhäuser werden, sondern richtige Zufluchtswohnungen, für die Frauen und andere Menschen, die vor häuslicher Gewalt fliehen. Nicht nur die Schulen sollen für Kinder, die Opfer von Missbrauch sind, ein sicherer Ort sein, sondern die Jugendhäuser sollen für Notfälle geöffnet sein.
Was sagt das über dieses Sozialparadies Deutschland, wenn in Boris Johnsons Brexit-Britain die Kinder, die ansonsten kostenloses Schulessen bekommen sollen, nun Essenspakete, kriegen? Und weil Großbritannien wirklich kein Paradies ist, sind diese Essenspakete mickrig. Aber wie traurig ist es, dass hier in Deutschland niemand auf diese Idee gekommen ist? Nicht mal die linken Menschen mit kleinem L oder Die Linke mit großen L?
Und was am Anfang der Pandemie galt, gilt auch jetzt für Bayern und die FFP2-Masken: Es kann keine Maskenpflicht geben, ohne dass kostenlose Masken verteilt werden. Es ist mir egal, wer sie verteilt. Von mir aus das Gesundheitsamt, das Sozialamt oder die AOK (aber dann auch an Unversicherte, die es sowieso während einer Pandemie überhaupt nicht geben sollte). Diese Pandemie hat uns zu schlechten Sozialisten gemacht. Aber das muss nicht sein. Deutschland kann es sich leisten, solidarischere Maßnahmen zu ergreifen. Wir sollten dafür kämpfen, bevor es tatsächlich zu spät ist.