Der Flughafen Teneriffa Süd, 26. März 2020: In der Schlange am Check-In-Schalter stehen überwiegend Rentner*innen. Bereits Stunden vor Abflug von Flug DE8305 haben sie sich hier eingefunden und in guter deutscher Manier schon mal angestellt. Die Bundesregierung hat zusammen mit der Airline Condor dafür gesorgt, dass der Flug überhaupt stattfindet, denn derFlugverkehr zu den kanarischen Inseln ist mit fortschreitender Covid-19-Pandemie in Spanien fast gänzlich eingestellt worden. Es gibt kaum noch Ausreisemöglichkeiten. Doch hier wird niemand zurückgelassen. Der Flug ist Teil der Rückholaktion tausender Urlauber*innen nach Deutschland und ich bin einer von ihnen. Ein Heimkehrer.
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Die Luftbrücke des Auswärtigen Amtes hat in Kooperation mit Reiseveranstaltern bisher knapp 200 000 deutsche Tourist*innen aus dem Ausland ausgeflogen. Bundesaußenminister Heiko Maas hatte für die größte Rettungsaktion in der Geschichte der Bundesrepublik 50 Millionen Euro zur Verfügung gestellt. Zweihunderttausend. Fünfzigmillionen. Das sind absurde Zahlen. Vor allem, wenn man auf die Situation in Griechenland blickt. Während einer weltweiten Gesundheitskrise harren im hoffnungslos überfüllten Camp Moria auf Lesbos 21 000 Geflüchtete in menschenunwürdigen Zuständen aus. Ohne Zugang zu medizinischer Versorgung und ausreichender Hygiene, zeitweise sogar ohne Zugang zu Wasser, wie Mission Lifeline berichtet. Das Camp wird sich selbst überlassen und stellt ein großes Risiko für die weitere Verbreitung von Covid-19 dar. Bleibt das Lager in dieser Form bestehen, werden der Krankheit vor Ort viele zum Opfer fallen.
Bleibt das Lager in dieser Form bestehen, werden der Krankheit vor Ort viele zum Opfer fallen.
Obwohl das zu verhindern wäre. Wenn es Deutschland schafft, soviel Geld auszugeben, um 200 000 Deutsche aus der ganzen Welt zurück zu holen, sollte es doch auch in der Lage sein, zusammen mit den Staaten der Europäischen Union eine Lösung zu finden und diesen unzumutbaren Zustand für 21 000 Geflüchtete zu beenden, oder etwa nicht? Stattdessen setzt das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) vorerst die humanitäre Flüchtlingsaufnahme aus, um der weiteren Ausbreitung der Corona-Pandemie vorzubeugen. Das wirkt in Anbetracht des Mangels an Hygiene und medizinischer Versorgung zumindest auf europäischer Ebene widersprüchlich: Zwar würden Infizierte in den Camps sich nicht unmittelbar auf Deutschland auswirken, aber längerfristig wird so die Pandemie in Europa auch nicht wirklich eingedämmt – was Deutschlands erklärtes Ziel ist. Moralisch gesehen ist der Schritt ohnehin nicht zu vertreten und ein Armutszeugnis für die sogenannte europäische Wertegemeinschaft. Mehr noch – es ist unterlassene Hilfeleistung.
Ein Armutszeugnis für die sogenannte europäische Wertegemeinschaft
Mitte März hatten sich außerdem sieben verschiedene europäische Staaten, unter ihnen auch Deutschland, darauf geeinigt 1600 besonders kranke und unbegleitete Kinder aus den griechischen Lagern aufzunehmen und untereinander zu verteilen. Die europäische Kommission koordiniert das Vorhaben zwischen den Staaten. Momentan ist aufgrund der Corona-Pandemie jedoch vollkommen unklar, wann und ob die Kinder wirklich die Camps verlassen werden. Inzwischen hat Mission Lifeline über eine Spendenaktion das Geld für zwei Evakuierungsflüge zusammen, um Geflüchtete aus den Camps zu holen. Der Berliner Senat erklärte sich bereit, Geflüchtete aufzunehmen, was aber bisher an der Logistik scheiterte.
Die deutsche Politik und Gesellschaft beschwören momentan ein solidarisches Miteinander herauf und betonen dessen Wichtigkeit. In der Nachbarschaft wird dazu aufgerufen sich gegenseitig zu helfen, es wird gemeinsam gesungen oder vom Balkon aus die Arbeit von medizinischem Personal beklatscht. Es soll gemeinsam an einem Strang gezogen werden. Innereuropäische Kooperationen wie die Aufnahme von italienischen Covid-19-Patienten in Deutschland sollen diesen Eindruck unterstreichen. Es wird davon gesprochen, dass diese Krise die gesamte Menschheit betreffe und alle gleich mache. Hautfarbe, Klasse, Geschlecht – egal.
In Zeiten wie diesen ist gelebte Solidarität auf jeder noch so kleinen Ebene unabdingbar.
Doch stimmt das wirklich? Die Zeichen innereuropäischer Verbrüderung sind natürlich zu begrüßen und unbedingt aufrechtzuerhalten, ja auszubauen. In Zeiten wie diesen ist gelebte Solidarität auf jeder noch so kleinen Ebene unabdingbar. Aber wo fängt diese an und wo hört sie auf? Der aktuelle Umgang mit Geflüchteten stellt diese Frage und beantwortet sie sich gleich selbst: Die Solidarität hört an den Grenzen Europas auf. Sie hört da auf, wo Notleidenden nicht geholfen wird, weil sie nicht die richtigen Papiere besitzen.
Ich bin natürlich froh, aus Spanien rausgekommen zu sein. Elf Tage in einer Ausgangssperre, in der man lediglich zum Einkaufen das Haus verlassen darf und in der strenge Polizeikontrollen die Regel waren, zehren an den Nerven. Doch in diesen Zeiten ist mir – noch mehr als ohnehin schon – das große Privileg meiner deutschen Staatsbürgerschaft bewusst. Denn der deutsche Staat kümmert sich um mich. Während ich auf Kosten des Steuerzahlers ausgeflogen werde (auch wenn ich anteilig zu den Kosten beitragen muss), schränkt die Europäische Union noch mehr als zuvor die Rechte derer ein, die aufgrund von Krieg und dem Zusammenbruch staatlicher Strukturen fliehen mussten. Sie lässt ihre Außengrenzen für Tausende in Not immer unüberwindbarer werden. Das ist die Perversion des oft verlauteten eigenen Anspruchs.
Die Menschen in den griechischen Camps können nicht mehr umkehren.
Ich habe noch ein Zuhause, in das ich zurückkehren kann. Ein Zuhause, in dem ich mich gegen Viren schützen kann. Die Menschen in den griechischen Camps können nicht mehr umkehren. Kein Staat holt sie heim. Sie haben keinerlei Möglichkeit, auch nur im Ansatz für ihre körperliche Unversehrtheit zu sorgen. Diese Privilegien verpflichten uns zum Handeln. Dich und mich. Uns alle. Wir müssen uns fragen, in was für einer Gesellschaft wir leben möchten und woran man uns nach der Krise messen wird. Denn es wird ein „Danach“ geben. Europa darf die Augen nicht verschließen. Sonst hört Solidarität da auf, wo ich aus meinem Urlaub ausgeflogen werde, einfach nur weil ich das Glück hatte, in Deutschland geboren zu sein. Während andere im wahrsten Sinne des Wortes zurückgelassen werden.