Triggerwarnung: Dieser Text beschäftigt sich mit Depressionen und Suizid. Betroffene oder Menschen, die das potenziell belastet, können sich überlegen, ob sie weiterlesen oder es lieber bleiben lassen.
„Am schlimmsten war es eigentlich immer montags“, erinnert sich Kjell*. Das Wochenende bedeutete für ihn vor Corona vor allem eins: Drogen nehmen und auf Sexparties gehen. Heute sitzt Kjell, der queer ist und trans, auf seiner Matratze und lächelt mich vorsichtig über den Bildschirm an. Wir reden per Videocall und philosophieren über die Welt, trinken dampfenden Kaffee. Natürlich soll das hier kein Text gegen sexpositive, ausschweifende Parties werden. Sondern einer über Loneliness, also Einsamkeit – und die hat sich in der queeren Bubble nicht erst seit Covid-19 wie eine Pandemie ausgebreitet.
„In queeren Clubs war meine Realität plötzlich die Normalität und ich konnte für ein paar Stunden vergessen, wie sehr cis-hetero die Welt da draußen war“, erzählt Kjell. Ein Schreibtisch und eine Kleiderstange, viel mehr gibt es in seinem Zimmer nicht. Er berichtet, wie ihn hier jahrelang das harte Erwachen erwartete: wenn er sich nach durchfeierten Tagen und Nächten in der spärlich eingerichteten 1-Zimmer Wohnung wiederfand – fertig und alleine.
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„Wobei… richtig alleine war ich eigentlich nie“, fügt Kjell hinzu. Er habe viele enge Beziehungen, erzählt er. „Vielleicht meine ich eher einsam.“ Tatsächlich ist Einsamkeit ein Gefühl, das nicht unbedingt etwas damit zu tun hat, ob man alleine ist. Man kann sich unter vielen Menschen befinden, auf einer Party oder mit Freund*innen abhängen und sich trotzdem einsam fühlen. Das belegen zahlreiche Studien. Und queere Personen erleben eine weitere Dimension davon.
Alexia*, die aus einem kleinen Dorf in Bayern kommt, kennt dieses Gefühl auch. Seit wann sie die Einsamkeit verspürt, weiß sie allerdings nicht mehr genau. „Irgendwie schon immer“, fügt sie nach einigem Überlegen hinzu. Bereits als Kind habe sie sich immer anders gefühlt, erzählt sie mir, während wir spazieren gehen. „Schwarz sein in Bayern war echt die Hölle“, sagt sie. „Und dann auch noch trans.“ Ihre ganze Jugend über habe sie dem Moment entgegen gesehnt, ihr Heimatdorf verlassen zu können. „Ich dachte immer, es wäre ganz einfach: Ich ziehe nach Berlin, oute mich und bin glücklich.“
Andere trans Personen zu treffen, Hormone zu nehmen und endlich das Leben zu leben, von dem sie immer geträumt hatte, seien natürlich total wichtige Schritte gewesen, sagt sie. „Das alles hat mir wahrscheinlich das Leben gerettet.“ Doch dem Gefühl einer inneren Leere sei sie auch danach nie vollständig entkommen.
Wo sind die queeren role models
Auch Kjell kann sich nicht mehr daran erinnern, wann die Traurigkeit immer größer wurde. Vielleicht mit Ende Zwanzig, als viele seiner cis-hetero friends in Zweierbeziehungen und Familie abtauchten und bei ihm alles beim Alten blieb? „Ich habe die ja nie für ihren Lifestyle beneidet“, meint Kjell. Kinder habe er schon immer nervig gefunden und monogame Zweierbeziehungen für eine alberne Erfindung des Patriarchats gehalten. Seine Freund*innen seien seine Familie, sagt er. Was schwierig sei, und das merke er, je älter er werde, sei eher, dass es an queeren Vorbildern fehle. „Für cis-hetero Personen hat die Gesellschaft ja einen Fahrplan vorbereitet“, sagt er. „Aber mal ehrlich, wie viele queere trans Typen, die in Poly-Beziehungen leben, über 60 sind und glücklich, kennst du denn?“
Für Alexia steht jedenfalls fest, dass queere Personen nicht nur wahnsinnig kreativ sein müssen, um ihren eigenen Weg ins Glück zu finden, sondern auch ziemlich viel Kraft und Stärke brauchen: „Und selbst wenn wir es schaffen, unseren eigenen Weg zu gehen, fehlt oft die Bestätigung von außen.“ Ihrer Schwester hätten die Eltern ohne mit der Wimper zu zucken eine Hochzeit bezahlt. Als sie es wenig später wagte, auch um Geld für eine Brust-OP zu fragen, war in der Familie plötzlich nicht genug Geld da, erzählt sie. Am Ende organisierten ihre Freund*innen eine Party, um ihr aus den Einnahmen eine Operation zu finanzieren. „Ich weiß echt nicht, was ich ohne meine Friends machen würde“, sagt Alexia.
„Sich gegenseitig zu unterstützen und füreinander da zu sein, spielt in der queeren Bubble eine große Rolle“, sagt Kjell. „Und trotzdem struggeln doch fast alle Queers mit Depressionen oder Ängsten.“ Warum das so sei, weiß Kjell auch nicht genau. Er kenne aber zwei trans Personen, die Suizid begangen haben. Viele weitere hätten Klinikaufenthalte hinter sich. „Und eine Therapie haben wir doch alle schon mal gemacht.“
Laut Studien sind Queers tatsächlich um ein Vielfaches häufiger von psychischen Erkrankungen betroffen als cis-hetero Personen: Bereits 2017 zeigte eine Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung, dass Lesben, Schwule und Bisexuelle in Deutschland doppelt so oft von depressiven Erkrankungen berichten wie heterosexuelle Menschen. Und unter trans Jugendlichen und Erwachsenen ist die Suizid-Rate enorm hoch.
Ausgrenzung in queeren Kontexten
Als die Diskrepanz in den 1950er Jahren erstmals beobachtet wurde, hielten Wissenschaftler*innen sie noch für ein „Symptom“ der „Krankheit“ Homosexualität selbst. Natürlich ist seitdem (in vielen Ländern, darunter auch in Deutschland) einiges passiert. Hasskriminalität gibt es noch immer, allein in Berlin wurden 2019 über 261 homofeindliche Übergriffe gemeldet. Aber die gesellschaftliche Akzeptanz für Queerness ist auch gewachsen: Es gibt die Ehe für alle und einen schwulen CDUler, der Bundeskanzler werden will. Natürlich ist es kein Zufall, dass ausgerechnet einer wie Jens Spahn politische Karriere macht. Denn während ein Teil der queeren Community (weiße, bürgerliche cis-schwule Typen) in den vergangenen Jahren tatsächlich immer weiter in die Mitte der Gesellschaft gerückt ist, bleiben viele andere queere Menschen weiterhin marginalisiert.
„Trans Frauen of Colour sind strukturell immer noch total benachteiligt“, sagt Alexia. Keine Jobs, keine Kohle, wenig Ressourcen, dafür: jede Menge Gewalt. Das Schlimmste sei jedoch, sagt sie, dass die Ausgrenzung auch innerhalb der queeren Bubble stattfinde. „Die meisten queeren Räume sind immer noch weiße queere Räume“, erklärt Alexia. Safe Spaces für queere BIPoC (Black, Indigenous and People of Color) seien das nicht: Die Diskriminierung, die es überall gebe, setze sich dort einfach fort. Etwa wenn BIPoC trans Typen aufgrund von rassistischen Zuschreibungen, wie Aggressivität oder sexistischem Verhalten, nicht in FLINT*-Räume kämen. „Wenn du ständig abgelehnt wirst, verinnerlichst du diese Ablehnung irgendwann“, sagt sie. Internalisierter Rassismus, Homo- und Transfeindlichkeit nennt sich das, hat oft ein negatives Selbstwertgefühl zur Folge und lässt die Einsamkeit am Ende wohl auch nicht weniger werden.
Besonderer Stress
Kjell ist weiß, in der Schule wurde er nie gemobbt und auch später habe er keine wirklich schlechten Erfahrungen aufgrund seiner Queerness gemacht. „Und trotzdem scanne ich soziale Interaktionen manchmal ab und passe mich unterbewusst an“, sagt er. Auf der Arbeit habe er zwar von seinem Freund erzählt, dass er aber „nicht nur“ schwul, sondern auch trans ist, behielt er für sich. Zu groß sei die Angst vor Ablehnung gewesen. „Vielleicht verstärkt auch das ein Gefühl von Distanz zu anderen Menschen“, sagt er schließlich.
100 Prozent zu geben, das reichte für Alexia lange Zeit nicht. „Wenn ich schon Schwarz und trans in Bayern sein musste, dann wollte ich wenigstens alles andere richtig machen“, erzählt sie mir. „Ich stand ständig unter Beobachtung, musste mich immer beweisen.“ Erst in einer Therapie habe sie aufgearbeitet, dass sie sich über Jahre antrainiert hatte, sich für alles die Schuld zu geben – selbst für Dinge, für die sie gar keine Verantwortung trug.
Diskriminierung, Angst vor Ablehnung, internalisierte negative Einstellungen und eine ständige Wachsamkeit: Das alles erzeugt einen bestimmten Stress, den die Wissenschaft „Minderheitenstress“ nennt. Er wird zu den generellen Stressfaktoren hinzuaddiert, die ohnehin schon alle Menschen erleben. Teil einer marginalisierten Gruppe zu sein, bedeutet also automatisch noch mehr Stress ausgesetzt zu sein. Stress kann aber hormonelle Veränderungen herbeiführen, die den Körper langfristig schädigen und zu Problemen mentaler Gesundheit wie Depressionen, Ängste oder einem Gefühl der Einsamkeit führen. „Vielleicht erklärt das, warum sich die große Erleichterung trotz Umzug, Coming-Out und vieler enger Freund*innen nie einstellte“, meint Alexia.
Aber neben all dem Schmerz und der Einsamkeit, die sie manchmal verspüre, gebe es auch Vieles in ihrem Leben, das sie niemals missen wolle. „Die krasse Connection zum Beispiel, die ich mit anderen BIPoC Queers habe, Zusammenhalt und Solidarität.“
Kjell erzählt zum Abschied, wie sehr er sich auf die Zeit nach Corona freue, wenn er diese Verbundenheit hoffentlich auch endlich wieder auf queeren Parties spüren könne. Denn trotz all der Einsamkeit steht für beide fest: alleine mit ihrer Einsamkeit sind sie nicht.
*Kjell und Alexia heißen eigentlich anders. Ihren richtigen Namen wollen sie nicht in einem Medium lesen.
Unterstützung oder psychologische Beratung gibt es unter anderem bei Rad und Tat, TrIQ und bei GLADT.