Wenn ich an die Weihnachtsfeiern meiner Kindheit zurückdenke, kann ich sie nur danach ordnen, was ich geschenkt bekommen habe. Auch schon meine ersten sechs Weihnachten in der DDR sind materiell geprägt und nach Wunder und Enttäuschung zu unterscheiden.
Statt Jahresendflügelfigur gab es das Krippenspiel in der kleinen krummen Dorfkirche. Danach gingen wir nur hundert Meter zum Haus meiner Großeltern. Dort war alles üppig glitzernd geschmückt, jede Baumkugel ein singuläres Prachtstück und um Himmels willen keine echten Kerzen. Die kniehohen Gartenzwerge, die meine Oma auch in der Stube stehen hatte, waren der Fichte gewichen.
Das erste Weihnachtswunder hatte sich materialisiert
Ich kann heute nicht mehr nachvollziehen, wie all diese Menschen in dieses kleine mit Weihnachtsschmuck vollgestopfte Zimmer passen konnten. Aber dadurch fiel es nicht auf, wenn ein Onkel oder eine Tante verschwand, kurz nachdem wir gemeinsam Kartoffelsalat und Bockwurst gegessen und die Erwachsenen ihren ersten Schnaps getrunken hatten. Dann klopfte es an der Tür. Natürlich reichte der riesige polternde Mann (war es wirklich einer?) mit der derben Jacke (war sie wirklich rot?) mit dem Kopf bis an die niedrige Stubendecke. Alle bekamen Puppen, Pullies und andere Dinge, an die ich mich nicht erinnere, weil sie nicht für mich waren. Ich bekam: einen bunten Teller. Dekorative Füllmasse aus Hohlschokolade, bunten Geleesternen und Nüssen, die erst noch geknackt werden mussten. Das konnte doch nicht wahr sein? Irgendwer schickte mich mit dem Weihnachtsmann in die Küche. Ängstlich folgte ich meiner verkleideten Tante und stand plötzlich vor einem 24er Diamant-Fahrrad in braunrosa. Brandneu und nicht von den Cousinen abgestoßen. Es würde noch zwei Jahre dauern, bis ich groß genug war, um damit fahren zu können. Aber das erste Weihnachtswunder hatte sich materialisiert.
Meine Schwester musste dieses Weihnachtswunder auf sehr viel schmerzhaftere Weise nacherleben. Sie hatte sich mit kreativen Mühen den Ruf eines ungezogenen Kindes erarbeitet und erfuhr deutlich öfter Strafmaßnahmen als ich. Eine davon gipfelte in einer wahr gemachten Drohung: Statt eines Geschenks bekam sie eine Rute und ein Stück Kohle. Die Ernsthaftigkeit und Überzeugungskraft, mit der meine Mutter der Sechsjährigen diese Bescherung bereitete, waren erschütternd. Und in der häufiger aufgefrischten Erinnerung wird die Qual jedes Mal ein wenig länger bis doch noch ein echtes Geschenk gerade so genug Trost spenden kann.
Die Eltern übernehmen die Wirkmechanismen des Kapitalismus für pädagogische Zwecke
Das vorenthaltene Geschenk wird damit zum äußerst wirksamen Instrument einer fragwürdigen Erziehung, die es sicher schon seit vielen Generationen gibt. Das Materielle wird dadurch noch künstlich überhöht, die Eltern übernehmen die Wirkmechanismen des Kapitalismus für pädagogische Zwecke. Oder ist es umgekehrt? In jedem Fall ist der Nebeneffekt zu erahnen, dass ein objektbezogener Fetisch sich noch tiefer einprägt.
Als wir in die Barbie-Phase kamen, schielte meine Schwester dann neidisch auf meine Petra und ich verächtlich auf ihre Steffi. Wir waren uns der Hierarchie der Wespentaillenpuppen schmerzlich bewusst. Zugleich waren wir in einem Alter angelangt, in dem wir die Preispolitik hinter dieser Hierarchie erahnen konnten. In dieser Zeit begann ich Tagebuch zu schreiben und am Ende des Heiligen Abends alle Geschenke zu listen, die ich bekommen hatte.
Ein paar Jahre später entschied sich meine Oma für eine Kiefer als Weihnachtsbaum, der Schmuck kam in vorsortierten Sets für ein stringentes Farbkonzept und zu den Indoor-Gartenzwergen hatten sich ein paar Zierpuppen gesellt. Ich bekam einen unfassbar hässlichen Polyesterschal mit neonbunten Streifen geschenkt. Ein orangenes Preisschild, das noch dran klebte, ließ keinen Zweifel daran, was sie zum Kauf bewegt hatte. Ich war gekränkt. Zugleich entlarvte meine Oma damit für mich, wenn auch eher unwissentlich, das kapitalistische Fundament der ganzen Veranstaltung.
Mit der Freude hätte auch die Vorfreude schwinden können, die sich für mich immer nur als Countdown zur Bescherung nachvollziehen ließ: Adventskalender, Nikolaus, die Deko-Exzesse meiner Mutter, die noch die hinterste Wohnungsecke mit einem Glitzerengel-Sticker aus der Bild der Frau beklebte. All das machte nur Sinn mit Blick auf die Geschenke an Heilig Abend.
Im Überfluss der erwachsenen Besitztümer die Weihnachtsgeschenke zur Nebensache geworden
Dieses Jahr sehe ich in der Vorweihnachtszeit eine Amazon-Plakatwerbung, die mit Geschenken „für eigentlich-nichts-Wünscher“ wirbt. Also für jene Menschen, die wie ich erwachsen geworden sind und deutlich mehr haben, als sie brauchen und sich all jene Dinge selber kaufen, von denen sie meinen, dass sie sie bräuchten.
In den dürren Jahren meines Studiums wollte ich nur Geldgeschenke. Aber mein Vater sorgte dafür, dass dieses eher schnöde Geschenk immer auch ein kreatives Highlight wurde: Die Scheine kamen in eigenwilligen Schächtelchen aus umfunktionierten Resten oder von kuriosen Tieren getragen. Das Wort Upcycling und die Berliner DIY-Weihnachtsmärkte waren noch Zukunftsmusik, als mein Vater Wurzelfiguren, Federn, abgeschliffene Flaschenscherben oder zartes Zigarettenpapier zu kleinen Kunstwerken verarbeitete.
Aber ich kann dieser perversen Variante des Überflusses sogar etwas abgewinnen: Während ich als Kind noch auf das Geschenk fixiert war, sind im Überfluss der erwachsenen Besitztümer die Weihnachtsgeschenke zur Nebensache geworden. Deswegen erinnere ich mich für die Weihnachten meiner Erwachsenenjahre kaum an Geschenke, sondern an die Wiedersehen mit meiner Familie und die Geschichten, die sich darum spinnen. Eines der schönsten Feste war vielleicht das, als wir bei meiner Schwester und ihrem Freund in der kleinen Altbauwohnung in Schwerin feierten und die Heizung ausfiel. Mein Vater brachte einen kleinen Elektroheizlüfter mit, der kaum das Wohnzimmer aufwärmte und uns buchstäblich zusammenrücken ließ.