Bei all diesem „Gender-Wahnsinn“ schien es lange Zeit immerhin eine Wahrheit zu geben, an der sich der Mainstream-Diskurs festhalten konnte: Zumindest auf biologischer Ebene gibt es genau zwei Geschlechter: Mann und Frau. Egal was man später daraus macht, jeder Mensch wird entweder als Junge oder als Mädchen geboren, Punkt.
Menschen mögen es gerne einfach und übersichtlich. Die Natur dagegen ist verdammt vielfältig. Und wer glaubt, Menschen ihrem biologischen Geschlecht nach in zwei abgeschlossene Kategorien einsortieren zu können, der sollte das erst mal mit einer Tüte Haribos versuchen.
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Wie komplex das mit dem Geschlecht aus biologischer Sicht tatsächlich ist, daran hat der Fall Caster Semenya letzte Woche wieder erinnert. Vergangenen Montag begann vor dem Internationalen Sportgerichtshof (CAS) die Anhörung in der Streitfrage, ob die südafrikanische Olympiasiegerin zukünftig von Wettbewerben ausgeschlossen werden soll. Die Argumentation: Ihre Testosteronwerte seien zu hoch „für eine Frau“ und würden ihr Vorteile verschaffen. Der Internationale Leichtathletikverband (IAAF) will sie rechtlich dazu zwingen, sich einer Hormontherapie zu unterziehen.
Einen Tag zuvor brachte die Schauspielerin Indya Moore Twitter in Aufruhr. Sie schrieb: „Wenn eine Frau einen Penis hat, dann ist ihr Penis ein biologisch weiblicher Penis“. Der Satz wurde 5800 mal kommentiert, meist voller Hass und Unverständnis. Moore, die mit der Serie „Pose“ berühmt wurde, ist transgender. Das heißt, ihr wurde bei der Geburt das männliche Geschlecht zugewiesen, sie selbst fühlt sich aber als Frau, lebt als Frau – ist eine Frau. Auf Nachfrage einer Twitter-Nuzterin erklärte sie ihre Aussage folgendermaßen: Ein biologischer Penis ist ein Penis aus Fleisch und Blut, das heißt, er ist kein „künstlicher Penis“, wie etwa ein Dildo oder ein Vibrator. Wenn dieser biologische Penis zum Körper einer Frau gehört, dann ist das ein biologisch weiblicher Penis.
Beide Frauen haben gezeigt: Aus biologischer Sicht reichen zwei Schubladen einfach nicht aus, um Geschlecht zu verstehen. Man müsste es sich eher wie eine Skala zwischen zwei Punkten vorstellen und fast alle Menschen sind an einem anderen Punkt irgendwo dazwischen. Oder vielleicht noch eher wie ein Koordinatensystem. Oder ein Sonnensystem.
Das kommt so:
Geschlecht setzt sich biologisch aus (mindestens) vier verschiedenen Faktoren zusammen:
1. Äußere Geschlechtsmerkmale.
Vagina, Vulva, Klitoris, Penis, Brüste, Bartwuchs: Die äußeren Geschlechtsmerkmale sind in der Regel das, woran wir von außen das Geschlecht einer anderen Person festmachen. Nach der Geburt wird dem Baby als erstes zwischen die Beine geguckt und – zack – ist das Geschlecht festgelegt. Diese Merkmale sagen aber nicht immer etwas darüber aus, was noch so im Körper und in der Psyche einer Person los ist. Und auch diese äußeren Geschlechtsmerkmale kommen in den unterschiedlichsten Variationen vor: Es gibt beispielsweise Menschen, die trans* sind – so wie Indya Moore – und Hormone einnehmen oder sich operieren lassen oder beides. Dann kann es sein, dass eine Person Brüste und Penis gleichzeitig hat, oder jemand hat Bart und eine Vulva. Manche Menschen werden auch mit Penis und Vagina geboren, oder mit einer Klitoris, die so groß ist, dass sie auch ein Penis sein könnte, oder sie haben einen Penis und ihnen wachsen in der Pubertät von alleine Brüste oder oder oder…
3. Hormone
Apropos Pubertät: Es gibt unterschiedliche Hormone, die beim biologischen Geschlecht mitmischen, insbesondere Östrogen und Testosteron. Alle Menschen tragen alle Sexualhormone in sich, nur in unterschiedlicher Konzentration – und man kann sie, wie gesagt, auch zusätzlich einnehmen. Sie sorgen zum Beispiel dafür, den Menstruationszyklus in Gang zu bringen, Spermien zu produzieren, Muskeln, Bart oder Brüste wachsen und die Stimme tiefer werden zu lassen. Caster Semenya ist eine Frau mit besonders viel Testosteron im Blut, deshalb hat sie laut IAAF mehr Muskeln als andere Frauen und ist athletisch im Vorteil. Tatsächlich trägt aber jeder Menschen seine individuelle Hormon-Mischung in sich. Mag sein, dass die Mehrheit der Frauen weniger Testosteron hat als die Mehrheit der Männer – aber die Grenzen sind fließend.
2. Gonaden (Keimdrüsen)
Zur Auswahl stehen in der Regel Hoden und Eierstöcke. Manche Menschen werden aber auch mit Hoden und Eierstöcken geboren. Bei Manchen sind die Eierstöcke nicht voll ausgebildet oder sie haben besonders kleine Hoden, nur einen hoden oder Hoden innerhalb des Körpers etc. Das hat etwas mit den Chromosomen zu tun.
1. Chromosomen
99% der Menschen werden entweder mit XX oder mit XY-Chromosomen geboren. Es gibt aber auch Menschen, die nur ein X-Chromosom haben. Oder XXY. Oder eine Kombination aus XX und XY. Dann gibt es auch noch das SRY-Gen, dass zusätzlich dafür sorgt, Penis und Hoden auszubilden. Meistens ist es bei Menschen mit XY-Chromosomen vorhanden, bei XX-Menschen nicht. Das kann aber auch genau andersherum kommen. Wenn eine Person mit XX-Chromosomen (typischerweise eine Frau) das SRY-Gen hat, hat sie möglicherweise auch einen Penis und kleine Hoden. Eine Person mit XY-Chromosomen (typischerweise ein Mann) kann ein mutiertes SRY-Gen in sich tragen und dann beispielsweise Penis, Hoden und einen Uterus haben oder aber in der Pubertät Brüste entwickeln. Das sind nur wenige Beispiele von sehr vielen Varianten.
Menschen, deren Körper sich biologisch nicht eindeutig in die klassische Mann/Frau-Einteilung einordnen lässt (und zwar seit der Geburt) werden als Intersexuell bezeichnet. Sie stellen etwa ein Prozent der Weltbevölkerung dar, in Deutschland sind es also mehr als die Einwohner*innen von Frankfurt am Main. Intersexuellen Menschen wird immer noch eine „Störung“ oder ein „Syndrom“ attestiert. Der Überbegriff dafür heißt DSD, das steht für „Disorders of Sexual Development“, also Störung der sexuellen Entwicklung. Dabei sind sie meistens kerngesund. Langsam setzt sich der etwas passendere Begriff „Variante der Geschlechtsentwicklung“ durch.
Ob Menschen transgender sind oder nicht, kann ebenfalls biologische Ursachen haben, wie eine Studie der University of São Paulo’s Medical School kürzlich herausgefunden hat. Die Forscher*innen haben signifikante Unterschiede in den Gehirnen von Trans*- und Cis-Menschen festgestellt, die darauf hindeutet, dass schon im Mutterleib feststeht, ob eine Person Trans* ist.
Haben wir letztendlich nicht alle irgendeine „Variante der Geschlechtsentwicklung“? Studien haben gezeigt, dass es größere biologische Unterschiede innerhalb einer Gruppe von Frauen und innerhalb einer Gruppe von Männern gab, als zwischen den beiden Gruppen.
Mag sein, dass Caster Semenya aufgrund ihres Testosteron-Levels mehr Muskeln hat, mag sein, dass sie einfach eine sehr schnelle Frau ist – so wie sich eben die Leistung jeder Sportlerin aus ihren genetischen Anlagen, ihrem Talent und ihrem Training zusammensetzt. Wenn das dem IAAF nicht passt, warum teilt er die Athlet*innen nicht einfach anhand ihres Testosterons in unterschiedliche Leistungsgruppen? Die Kategorien „Mann“ und „Frau“ scheinen ja nicht immer besonders aussagekräftig zu sein.
Indya Moore hat mit ihrem Tweet noch einmal daran erinnernt: Biologie heißt nichts anderes als die Wissenschaft vom Leben. Und so ist der lebendige Penis einer Frau eben auch ein biologisch weiblicher Penis.