Die am weitesten verbreitete Geschlechtskrankheit in Deutschland scheint die Scham zu sein: Damit sind fast alle infiziert. Sexuell übertragbare Krankheiten sind noch immer ein Tabuthema. Aber wer die Klappe hält, was die Verhütung angeht, kann sich bald über Untermieter im Körper freuen – die Infektionen mit Geschlechtskrankheiten hat auch in Deutschland in den letzten Jahren zugenommen.
„Eines Montagmorgens im März 2011 wachte ich auf und hatte eine halbseitige Gesichtslähmung.“ Tadzio Müller hatte in seinem Leben drei Syphilisinfektionen, die letzte erst in diesem Sommer. Aber „die Diagnose“ kam vor sieben Jahren. Nach einem Besuch beim Hausarzt wurde er damals gleich ins Krankenhaus weitergeschickt, um Tests durchführen zu lassen. „Und zu diesen ganzen Tests habe ich gesagt: ‚Oh, nebenbei machen Sie mal noch ’nen HIV-Test.‘“ Als das Ergebnis positiv zurückkam, ist Tadzio einfach zusammengeklappt. „Ich kann mich noch erinnern, dass ich wie ein Tier geröhrt hab – ‚Oh Gott, das Schlimmste aller schlimmen Dinge ist passiert!‘“
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Das eigentlich Problem ist die eigene Scham
Mittlerweile sieht Müller, der als Referent bei einer politischen Stiftung arbeitet, das anders: Das Problem bei sexuell übertragbaren Krankheiten und Infektionen ist nicht das medizinische, sondern das moralische. Denn die medizinische Dimension sei handhabbar. „Mein Leben ist genauso wie vorher, nur dass ich morgens halt ’ne Pille nehmen und darüber reden kann, dass ich HIV positiv bin“, erzählt er. Vor zwei Jahren hatte er die Einsicht: Das eigentliche Problem ist die eigene Scham.
Sexuell übertragbare Infektionen (STI) sind, wie der Name schon sagt, Infektionen, die vor allem durch sexuellen Kontakt übertragen werden. Auch jenseits der Penetration – egal ob anal, genital oder oral. Manche Erreger werden durch den Kontakt mit Vaginalsekret, Spermien oder durch Hautkontakt übertragen: Also zum Beispiel wenn man Geschlechtsteile von außen aneinander reibt, sich selbst und andere Personen mit der selben Hand befriedigt oder sich Toys teilt.
Bakterieninfektionen haben zugenommen
Obwohl das Wissen über HIV in Deutschland weit verbreitet ist, gibt es noch immer Informationsbedarf, was andere Infektionen betrifft: Mit rund 3000 Neuinfektionen pro Jahr bleibt die Infektionsrate mit HIV auch laut der Deutschen Aidshilfe stabil. Aber: Die Bakterieninfektionen haben zugenommen. Zwischen 2009 und 2014 stieg die beim Robert-Koch-Institut registrierte Zahl der Syphilis-Fälle fast um das Dreifache an. In Sachsen, wo Gonorrhö, auch Tripper genannt, und Chlamydien meldepflichtig sind, hat sich laut einem Bericht des Instituts auch die Zahl der Tripper-Fälle von 2001 und 2014 verzehnfacht.
Infizierte, die sich nicht häufig testen lassen, geben die Bakterien weiter, ohne es zu wissen. Ein hoher Prozentsatz der Betroffenen zeigt keine Symptome. Die Chlamydieninfektion beispielsweise, die laut dem Verbund für Sexualberatung Pro Familia zu den häufigsten sexuell übertragbaren Erkrankungen gehört, bleibt deswegen oft unbemerkt. Ebenso Gonorrhö: Oft verläuft die Infektion ohne Symptome, gerade wenn sie im Rachen und anal auftritt. Wenn die Krankheiten lange unentdeckt bleiben, führe das zu chronischen Infektionen, so der Präsident der Deutschen STI-Gesellschaft Norbert Brockmeyer. Unbehandelt kann eine Clamydieninfektion beispielsweise auch zu gesundheitlichen Problemen wie Unfruchtbarkeit führen, ein unbehandelter Tripper kann schmerzhafte chronische Entzündungen auslösen, HPV erhöhen das Risiko für Gebärmutterhalskrebs und Kehlkopfkrebs.
Tadzios erste Geschlechtskrankheit war ein Tripper, auch ohne Symptome. „Wenn du wie ’ne Hete lebst, aber nebenbei schwulen Sex hast, machst du einfach alle paar Monate beim Arzt nebenbei noch einen STI-Test.“ Einer dieser Tests kam positiv zurück und Tadzio hatte keine Wahl, als zu seiner damaligen Freundin zu gehen und zu sagen: „Honey, wir haben rektale Gonorrhoe…“
Bei heterosexuellen Frauen besteht die Gefahr, dass STIs unentdeckt bleiben
Der Berliner Arzt Oliver Müller arbeitet seit zwei Jahren in einer Schwerpunktpraxis zu HIV und anderen STIs. Seiner Einschätzung nach gehören zu den typischen STI-Risikogruppen neben Männern, die Sex mit Männern haben, auch Drogenkonsument*innen und Menschen mit häufig wechselnden Geschlechtspartner*innen wie Sexarbeiter*innen. Jeder Fall sei aber individuell zu betrachten. Denn gerade bei heterosexuellen Frauen, so Müller, bestehe die Gefahr, dass STIs unentdeckt blieben, weil sie aus diesem Schema der Risikogruppen herausfielen.
Auch Becci*, 25, bemerkte ihre HPV-Infektion nur durch einen Abstrich bei der Gynäkologin. Keinerlei äußerliche Symptome wie Feigwarzen oder andere Veränderungen deuteten auf die Diagnose hin. Und was diese eigentlich bedeutet, war ihr zunächst auch nicht klar: „Ich hatte früher in der Schule davon gehört, da kamen die HPV-Impfungen auf. Wir wurden aber total beschissen darüber aufgeklärt“, sagt die Studentin, die neben dem Studium als Sexarbeiter*in jobbt. Für eine Studie befragten Ärzt*innen im letzten Jahr Berliner Neuntklässler*innen zu Geschlechtskrankheiten: Knapp die Hälfte hatte noch nie von Chlamydien gehört und noch weniger von HPV. Sie sind garantiert nicht die einzigen, aber sie wird es am ehesten betreffen: „Jeder Zehnte hat zwischen 16 und 27 Jahren eine Chlamydieninfektion“, weiß der STI-Experte Brockmeyer. Aber auch unter der älteren Bevölkerung, 60 aufwärts, verbreiten sich die Infektionen, denn viele denken gar nicht daran, dass sie betroffen sein könnten. Für Tadzio Müller steht fest: Man redet nicht über STIs wie über andere Krankheiten. Das Sexualverhalten habe sich zwar mittlerweile verändert, aber die Erzählungen darüber kaum.
Man redet nicht über STIs wie über andere Krankheiten
Ein weiterer Grund, warum sich nur wenige testen lassen, könnten die Krankenkassen sein. Die übernehmen die Kosten für einen Test auf Geschlechtskrankheiten nämlich meist nur dann, wenn Symptome bestehen oder Partner*innen betroffen sind – oder bei Zugehörigkeit zu einer Risikogruppe. Ob jemand besonders gefährdet ist, sich mit einer sexuell übertragbaren Infektion anzustecken, ist aber eine Entscheidung im ärztlichen Ermessen. Das heißt, die Notwendigkeit, auf STIs zu testen, kann von Mediziner*in zu Mediziner*in unterschiedlich eingeschätzt werden. Das Verständnis von Sex ist jedoch bei Ärzt*innen noch ziemlich heteronormativ und monogam:„Darin liegt auch ein Problem: Wenn wir nur so eine hegemoniale Safer Sex Story haben, aber die meisten Leute keine Kondome benutzen – das ist dann so wie das Marihuana-Verbot.“
Sexualität werde dem Berliner Arzt Oliver Müller zufolge mittlerweile einfach anders gelebt: Auf BDSM-Parties oder in Darkrooms, über Apps wie Grindr, OkCupid oder Tinder sowie in polyamörosen und offenen Beziehungen. Auch anonym. Auch ungeschützt. „Diese Sexualität findet statt“, sagt Müller. Und wenn sie schon gelebt werde, müsse dafür gesorgt werden, dass das so sicher wie möglich geschieht. Müller betont aber auch, dass es keinen hundertprozentig sicheren Sex gebe. Safer Sex ist dabei die Verwendung von Kondomen, Frauenkondomen, Lecktüchern, Fingerlingen oder Einweghandschuhen.
Risikoreduktion statt Safer Sex
Für Tadzio Müller ist so etwas wie komplett safer Sex, wenn überhaupt, mit Ganzkörperkondom möglich. Müller ist Teil der Bareback-Szene, in der penetrativer Verkehr ohne Kondome stattfindet oder ohne Handschuhe gefistet wird. Statt Safer Sex spricht er von Risikoreduktion: „Es ist auch so, dass ich mich beim Feiern von 15 Leuten durchvögeln lasse. Danach hatte ich ’ne Syphilis und eine Gonoröh und dachte mir ‚Jetzt mal ganz ehrlich: Das muss nicht sein.‘ Also drehe ich jetzt einfach die Zahl der Leute runter, die ich an meinen Arsch ranlasse.‘“
Für Becci ist Safer Sex Standard in ihrem Privatleben und im Beruf: „Was teilweise sehr nervig ist, weil es immer noch sehr in ist, Sex ohne Kondom haben zu wollen“, sagt sie. Über die Konsequenzen wüssten viele immer noch nicht Bescheid, da komme es immer wieder zu dem gleichen Gespräch: „Und was ist mit HPV?“ – „Ah interessant, das kenne ich ja gar nicht, was ist das denn?“ – „Tja, das hast du wahrscheinlich auch.“ Neulich wurde sie allerdings sehr überrascht: „Ich hatte ein Date mit einem Typen und bevor wir irgendetwas gemacht haben, meinte er: ‚Übrigens, ich will dir nur sagen, ich hatte letztes Jahr eine HPV-Infektion.‘ Das war der erste Typ, der mir irgendetwas dazu gesagt hat.‘“
*Name von der Redaktion geändert