Von FDP bis SPD, von Feuilleton bis Boulevardpresse – nach dem rechten Anschlag in Halle sprechen sie alle gerne von einem „Angriff auf uns Alle“. Verschiedene Politiker*innen und andere Personen des öffentlichen Lebens reagierten mehr oder weniger gleich auf die schrecklichen Morde in Halle: sie allen sehen in den Taten einen Angriff auf die gesamte deutsche Gesellschaft und Demokratie. So auch der Antisemitismusbeauftragte der Bundesregierung Felix Klein, die SPD-Staatsrätin Sawsan Chebli oder die FDP-Politiker Marco Buschmann und Hagen Reinhold.
Das mag noch so gut gemeint ist, führt aber in eine vollkommen falsche Richtung. Ein solches Framing lenkt den Fokus von den eigentlichen Opfern des rechten Hasses ab, denn: Dieser Anschlag war ein gezielter Angriff auf Juden und Jüdinnen, der Täter ist ein Antisemit und ein Rassist.
Aus Morden werden Memes, aus Memes werden Taten
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Er handelte zwar allein, ist jedoch eben kein „Einzeltäter“, denn er ist Teil eines globalen Netzwerkes, in dem sich zunehmend Menschen vernetzen und radikalisieren. Die einzelnen Täter stehen meist zwar nicht in einem persönlichen oder logistischen, dafür umso mehr in einem ideologischen Ausstausch, der sich ganz offen auf Internetforen wie 4Chan, 8Chan (mittlerweile offline) oder dem deutschen Ableger Kohlchan (ebenfalls jetzt offline) abspielt. Hier werden aus den Morden Memes, aus Memes werden Ideen und schließlich weitere Taten. In diesem Umfeld hielt sich auch der Täter aus Halle auf.
Dieser bezeichnet sich selbst als „Anon“, ein Verweis auf eine online-Szene von Verschwörungstheoretiker*innen. Er sprach in einem vorab verfassten „Manifest“ und dem Livestream seiner Tat immer wieder von jüdischen Verschwörungen und der zionistischen Kontrolle über die deutsche Regierung und leugnete wiederholt den Holocaust. Er befürchtete wie auch der Täter von Christchurch den „Großen Austausch“, also die sukzessive, gesteuerte Verdrängung der ansässigen Bevölkerung durch massenhafte Einwanderung. Den Feminismus sah er als Mittel der jüdischen Verschwörung, um die Geburtenraten zu senken und somit den „Großen Austausch“ voranzutreiben.
Dieselben Thesen wie der Täter von Christchurch und die „Identitäre Bewegung“
Mit diesen Thesen zitiert er nicht nur den Täter von Christchurch, sondern auch die „Identitäre Bewegung“, die immer wieder die Gefahr eines „Großen Austauschs“ betont und wegen ihrer Nähe zum Attentäter von Christchurch jüngst in den Fokus der österreichischen Sicherheitsbehörden geraten ist. Die antisemitischen Ideen des Täters sind ebenfalls nicht neu: Juden als Übel der Welt, die das deutsche Volk hinterrücks vernichten wollen und die die Geschicke der Welt steuern, sind sehr alte Deutungsmuster, die seit Jahrhunderten heraufbeschworen werden, um die verschiedensten Probleme zu erklären. Die modernisierten antisemitischen Mythen finden sich zu Hauf in den Internetforen, in denen sich der Täter aufhielt.
Das ideologische Umfeld des Täters ist klar, die Motive und Ziele ebenfalls: Es ging darum, Juden und Jüdinnen zu vernichten. Das es dazu nicht gekommen ist, ist einzig und allein der Verdienst einer massiven Holztür, die der Täter nicht überwinden konnte.
Aus Frust und Wut erschoss er die vorbeikommende Passantin Jana L. und fuhr zu einem Döner-Imbiss, in dem er mehrfach auf den dortigen Gast Kevin S. einschoss, auch nachdem dieser bereits tot am Boden lag. Zwar waren Juden und Jüdinnen sein dezidiertes Ziel, vielmehr ging es dem Täter aber darum, „so viele Nicht-Weiße wie möglich zu töten“, wie er es selbst in seinem „Manifest“ formulierte. Juden und Jüdinnen sollten sterben, da sie Schuld am „Großen Austausch“ seien, alle „Nicht-Weißen“ sollten sterben, um den „Austausch“ aufzuhalten.
Kein Angriff auf die weiße, deutsche Mehrheitsgesellschaft
Wenn also Oliver Malchow, der Chef der Gewerkschaft der Deutschen Polizei (GDP) bewusst davon spricht, „alle Gotteshäuser“ unter Polizeischutz zu stellen, dann ist das eine Vereinnahmung und Leugnung der Gefahr, der Juden und Jüdinnen aber auch Muslime und Muslimas in diesem Land bereits seit langem ausgesetzt sind.
Halle ist kein Angriff auf alle Religionen. Es ist kein Angriff auf die weiße, deutsche Mehrheitsgesellschaft. „Wir Alle“ sind nicht die Opfer, vielmehr sind „wir“ weiße Deutsche Mittäter. Es ist kein Angriff auf ein Deutschland, dass die AfD in den Bundestag, in die Talkshows und auf die Titelseiten aller Zeitungen gebracht hat. Es ist kein Angriff auf ein Deutschland, in dem seit der Wiedervereinigung mindestens 193 Menschen durch rechte Gewalt umgebracht wurden und die staatlichen Organe wie der Verfassungsschutz derweil versuchen, antifaschistische Arbeit unmöglich zu machen. Kein Angriff auf ein Deutschland, in dem Walter Lübke von einem Neonazi ermordet wird und die Bundesregierung im selben Jahr die staatlichen Zuschüsse für politische Bildungsarbeit und Demokratieförderung kürzt. Es ist kein Angriff auf ein Deutschland, in dem viele Synagogen seit langem unter Polizeischutz stehen müssen und Juden und Jüdinnen, Muslime, Muslimas und People of Color sich immer weniger sicher fühlen können.
Dieses Deutschland ist nicht Opfer des Anschlags in Halle, es ist Komplize.