Früher war ich kein Kanake. Heute werde ich zu einem. Nicht, dass ich zu einem gemacht werde. Nein. Ich mache mich selbst zu einem. Ich. Ich selbst. Ich spreche dunkelhäutige Menschen häufiger mit Bruder oder Schwester an. Ich rede mit Nigerianern, als kämen wir aus dem selben Viertel. Als müssten wir nichts mehr sagen. Als teilten wir das gleiche Wissen, die gleiche Erfahrung. Ich grüße Moslems mit „Al-Salam“, erwidere den Gruß aber nicht, wenn mich ein Weißer so anspricht. In dem „Salam Aleikum“ eines Weißen steckt für mich kein Friede mit dir mehr, sondern etwas Anbiederndes. Etwas, das die Kategorien „uns“ und „sie“ stört, in denen ich jetzt immer mehr denke.
Nein. Du bist von hier. Du gehörst nicht zu uns.
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Ich rede jetzt so und ziehe die Linie entlang der Hautfarbe, des Fremdheitsgrades. Ich tausche Floskeln aus. Auf Arabisch, Türkisch, Kurdisch. Ich spreche nicht ihre Sprache. Praktiziere nicht ihre Religion, aber jetzt sind es meine Leute. Das war nicht immer so. Ich war nicht immer so. Nicht so pauschal, nicht so platt. Nicht so rassistisch. So reaktionär. Abweisend und exklusiv. Ich war nicht so verroht, dass, wenn ein siebenjähriger Junge vor die Bahn geschubst wurde, mein erster Gedanke die Hautfarbe des Täters war. „Lass es bitte keinen von uns gewesen sein“, dachte ich damals und erschrak. Da erschrak ich noch.
Irgendwas ist passiert. In mir. Um mich. Nicht lange her. Irgendwas, das mich nicht mehr über mich erschrecken lässt.
Als Ausländer und Geflüchteter habe ich die NS-Zeit immer auch aus der Perspektive der Juden betrachtet. Die Fragen, die mich beschäftigten, waren: Warum sind sie nicht früher abgehauen? Warum sind so viele dageblieben? Warum gab es so wenig Gegenwehr? Wann war es eindeutig klar, dass es keine Phase, nichts Vorübergehendes ist und es ihnen definitiv an den Kragen geht? Gab es einen Tipping Point? War die Reichspogromnacht so etwas?
Ich wollte, dass er Willkür versteht
Vor einem Jahr etwa war ich mit meinem Sohn am jüdischen Denkmal. Ich habe ihm erst nicht erklärt, was es ist. Er sollte da unvoreingenommen und auch intuitiv rangehen. Sollte das Denkmal spüren. Das kann das Werk ja auch unglaublich gut und will es ja auch. Es wirkte stärker als ich dachte. Was am Anfang noch spielerisch und überschaubar war („Hier kann man richtig gut Verstecken spielen.“), wurde ein paar Blöcke weiter undurchdringlich, beklemmend („Wie ein Labyrinth!“) und zwei, drei Meter weiter macht es schon ernsthaft Angst („Papa. Wo bist du?“). Auf einmal wollte der sonst so coole Typ meine Hand halten, hatte Angst, verloren zu gehen. Auf einmal war er nicht mehr acht, sondern er war viel jünger geworden. Kleiner. Erschrak vor einem noch höheren Block und davor, dass auch wir in Relation zu den Blöcken immer kleiner wurden. Mit ihm, durch seine Augen spürte ich das Denkmal noch mehr, als sonst (Ich bin tatsächlich nicht selten dort. Wer mich besucht und Sightseeing will, der bekommt das jüdische und das russische Denkmal). Danach sprachen wir über den Nationalsozialismus, über Rassismus und darüber, welche unserer Freunde jüdisch sind. Ich wollte, dass er sieht, wie willkürlich die Auswahl ist. Ich wollte, dass er Willkür versteht. Über das Denkmal haben wir nicht mehr groß gesprochen. Es hatte seine Wirkung erzielt.
Die Leute beruhigen sich wieder, dachte ich bis vor kurzem noch. Sie kommen zur Vernunft.
Ich habe den Rechtsdrang dieser Gesellschaft bis vor Kurzem als eine Phase wahrgenommen. Als etwas, das vorübergeht. Ich habe immer noch einen sehr großen Respekt vor der Intelligenz dieses Landes, traue ihr viel zu. Die Leute beruhigen sich wieder, dachte ich bis vor kurzem noch. Sie kommen zur Vernunft. Sie hatten die Krankheit schon mal. Sie sind immun, kennen die Medizin, finden noch das Gegengift. Das hat sich im letzten Jahr verändert. Nach Halle kam heute Hanau. Ich spüre die Klaustrophobie kommen. Heute ist sie wieder einen Schritt näher gerückt, denke ich. Keine drei, vier Blöcke ist sie entfernt. Heute dachte ich an unseren Ausflug zum jüdischen Denkmal. Und ich denke, ich verstehe, was mich zum Kanaken macht. Es ist die Klaustrophobie. Die Angst. Ich bin mein Sohn, der versucht, eine Hand zu greifen. Auch in meinem „Salam Aleikum“ steckt kein Friede mit dir. Sondern etwas Verunsichertes, Hilfesuchendes. Der Nigerianer kommt nicht aus meinem Viertel in Teheran, wir teilen nicht das gleiche Wissen, nicht die gleiche Erfahrung, aber wir teilen die gleiche Angst.
Ich denke, ich werde nicht auf den Tipping Point warten. Ich werde nicht warten, bis sie mir einen gelben Halbmond ans Hemd heften, meinem Sohn den Zweitnamen Mohammed in den Pass eintragen. Ich werde nicht warten bis wir klein geworden sind. Und ich werde auch nicht kämpfen. Wofür auch? Für Deutschland? Nee. Da kümmern sie sich bitte selbst drum. In ein, zwei Jahren habe ich einen deutschen Pass, in dem ich noch Behzad Karim-Khani heißen werde. Das ist gut. Mit dem kommt man nämlich am besten aus dem Labyrinth.