Könnte ich meinem 18-jährigen Ich eine einzige Nachricht senden, dann wäre es wohl: Die sexuell befreite, sexpositive, polyamouröse linke Szene aus deinen Träumen gibt es nicht. Mit Anfang 30 muss ich auf eine sehr ambivalente Zeit zurückblicken. Als ich damals von Zuhause fortging, dachte ich, damit auch einen Sehnsuchtsort zu erreichen, den ich mir so schön ausgemalt hatte. Statt familiärer Enge und Gewalt sollte eine irgendwie „befreite“ Welt der Gefühle, von vielfältigen Liebes- und Sexualformen Einzug in mein Leben halten. Was ich fand, waren die Abgründe in anderen – und in mir. Damals sollte es gelebte Utopie sein. Heute versuche ich nur noch, diese Vision vereinzelt in privaten Beziehungen zu verfolgen.
___STEADY_PAYWALL___
Am Infotisch kaufte ich mir 30er-Packungen mit Aufklebern: „Have Sex, Hate Sexism“
Wie konnte es dazu kommen? Ich bin in beengten Familienverhältnissen groß geworden. Weder gab es Zuhause wirklich sexuelle Aufklärung, noch gelebte Verantwortung für Gefühle oder Grenzen. Auf Partys im Autonomen Zentrum kam ich plötzlich mit großer Vielfalt in Kontakt. Es gab Freizügigkeit, schamlose Nacktheit, Dreiecksbeziehungen, gelebte Pansexualität, BDSM. Ich liebte, dass sich schwule Paare inmitten der Menge innig küssen konnten. Wenn jemand über diese Sachen dummes Zeugs abließ, wurde ihm auf der Stelle erklärt, dass er gerade zum Beispiel „Slutshaming“ betrieben habe. Alle waren irgendwie „queerfeministisch“ und noch dazu „sexpositiv“. Am Infotisch kaufte ich mir 30er-Packungen mit Aufklebern: „Have Sex, Hate Sexism“
Statt mir meine Oberstufenlektüre reinzufahren, verfolgte ich erste feministische Diskurse. Ich lernte: Ganz früher waren „wir“ Feministinnen noch ein wenig verklemmt. Noch lange vor meiner Zeit hatte man sich schon pro und contra Pornographie gestritten. Leute lasen heutzutage lieber „The Ethical Slut“, diskutierten freies Begehren, Beziehungsformen, unverbindlichen Sex bei gemeinschaftlicher Solidarität. Die Früchte des Zorns sangen „Passt aufeinander auf“ und ich erzählte meiner feministischen Geschichtslehrerin was von den „feminist sex wars“, eben jenem alten Streit unter Feministinnen. Komischerweise wollte die davon noch nie was gehört haben.
Das erste Mal, als ich zu etwas „Nein“ sagte und es dann doch getan wurde
Ich sammelte also meine Erfahrungen – und fiel so richtig auf die Fresse. Beziehungen zu führen, sexuelle Begegnungen auszuhandeln, Menschen einzuschätzen, meine Beziehungsmuster zu begreifen, auf andere aufpassen statt „entspannt“ seinem Begehren zu folgen und, vor allem: Grenzen zu artikulieren, überschrittene Grenzen ernst zu nehmen, toxische Beziehungen zu verlassen – das war alles nicht so wie ich es mir vorher ausgemalt hatte. Ich erinnere mich an meinen ersten Beziehungstalk in dieser Zeit. Sie erklärte mir, was sie an meinem Verhalten störte. Doch meine Gefühle machten dicht. Ich verstand absolut kein Wort. Oder das erste Mal, als ich zu etwas „Nein“ sagte und es dann doch getan wurde: Es brauchte nicht viel und ich fühlte mich schuldig dafür, die Frechheit zu besitzen, auf mein übergangenes „Nein“ hinzuweisen, ja, überhaupt „Nein“ gesagt zu haben.
Aus dem Traum befreiten Liebens wurde ein Albtraum, den ich mit Liebe verwechselte
Aus dem Traum befreiten Liebens wurde ein Albtraum, den ich mit Liebe verwechselte, in den mich meine Schuldgefühle immer weiter hinein trieben. Doch trotz allem: „Sex“ gehörte eben dazu. Zumindest ließ ich mich immer wieder davon überzeugen – selbst, als ich mich bereits mental davon verabschiedet hatte. In meinem Bild von Feminismus war nicht vorgesehen gewesen, keinen Sex zu haben.
Nach dieser Erfahrung durchlebte ich ein paar ziemlich dunkle, bisweilen lebensgefährliche Jahre. Später fand ich heraus, dass ich das mit mehr oder weniger allen meinen Freundinnen teilte. Ich stabilisierte mich, kämpfte mich zurück auf die hellen Seiten des Lebens. Ich hatte aus meinen Fehlern etwas gelernt: auf eigenen Grenzen bestehen, sich nicht mehr so viel gefallen lassen eh man geht. Vor, bei und nach dem Sex reden. Ich begann, meine Utopie von damals zu reaktivieren: jetzt aber weniger als Idee solidarischen Miteinanders im gemeinsamen Aufstand gegen Kapitalismus und Patriarchat, sondern als Leistung und Performance aus mir selbst. Wer nicht redete, den brachte ich zum reden. Wer seine eigenen Beziehungsmuster nicht kannte, mit dem fand ich sie im Gespräch heraus. Wer mir wehtat, den verließ ich – glaubte ich. Wer etwas an mir auszusetzen hatte, dem hörte ich aufmerksam zu, zügelte meine Abwehr, blieb mir aber viel treuer. Bei all dem lernte ich Unmengen über mich selbst. Ich stellte mich den Erinnerungen an Grenzüberschreitungen, die ich selber begangen hatte. Meine Fähigkeiten, Vorsicht walten zu lassen, Entgleisungen zu vermeiden, weitsichtig Probleme anzusprechen und zu lösen, stiegen. Ich probierte mich aus. Sex wurde wieder spannend, vielfältig und existentiell, ohne allzu bedrohlich zu sein.
Öffentliches Reden über Sex und Beziehungen wurde politisch wichtig
Über dieses neue Glück in meinem Leben fing ich an, mich auch wieder dem sexpositiven Feminismus näher zu fühlen. Öffentliches Reden über Sex und Beziehungen wurde politisch wichtig. Was mir nicht so klar war: ich musste erst wieder „dazugehören“, um es politisch wichtig zu finden. Sich sexpositiv zu positionieren war für mich auch eine Art, mich zu profilieren: „Bei mir läuft`s“. Daraus sprach auch meine unendliche Erleichterung darüber, die schlimme Zeit überwunden zu haben. Ich restaurierte meine alte Utopie, nachdem sie das erste mal zusammen gebrochen war. Ich stützte sie nun aber durch all meine Skills, durch alles, was ich schmerzhaft gelernt hatte. Statt auf den Schutz durch meine Liebes- und Sexualpartner*innen zu vertrauen, vertraute ich in Wirklichkeit mehr auf meine Selbstschutzfähigkeiten. Und selbst mit denen lief es in Wirklichkeit gar nicht so gut: Ich beendete zum Beispiel eine Beziehung erst Wochen nach einem Schlag in mein Gesicht. Oder ich bekam mit, wie sich Leute, die ich gar nicht kannte, über meine Sexualität das Maul zerrissen.
Nach einer Weile musste ich einsehen: In Wirklichkeit waren Sex und Beziehungen noch immer ein gefährliches Feld für mich. Ich erlebte weiterhin, wenn auch kleinere, Übergriffe. Etwa den mehrmals verneinten „Kuss“ einer „Freundin“ oder beim Sex übergangene Stoppsignale. Übergriffige Personen erzählten nach wie vor Müll über mich. Ich war immer noch zu ängstlich, offen zu vertreten, was wirklich geschehen war. Und tat ich es doch, erlebte ich, wie mir Freund*innen in den Rücken fielen. Erst mit den Jahren stieg die Sicherheit weiter an. Ein Schutzfaktor: In emotional turbulenten Zeiten gehe ich keinen Sex mehr ein.
Ich finde es nach wie vor wichtig, offen über Sexualität zu kommunizieren. Ich denke aber auch an die 18-jährigen heute: Blicken sie mit der selben Illusion auf ihre nächsten Lebensjahre wie ich? Glauben auch sie vielleicht, dass es zu einer „emanzipierten Frau“ dazugehört, sich fröhlich durch die Betten zu vögeln? Aus meiner Erfahrung und der Erfahrung quasi aller meiner Freundinnen möchte ich ihnen zurufen: nein, so wird es nicht ablaufen. In mir stellt sich eine Verantwortungsfrage: Zeige ich anderen genau das Bild von Feminismus, das mir selber so verhängnisvoll war?