Es fühlt sich an, wie mit dem Kopf aufgeschlagen zu sein: auf dem harten Boden der Realität. Tschau, kleiner Funken Hoffnung, dass wir in diesem Land tatsächlich mal über Polizeigewalt reden könnten. Der Bundesinnenminister, pardon „Heimat“minister, hat es mit seiner Ankündigung, Hengameh Yaghoobifarah anzuzeigen mal wieder geschafft, den Diskurs um Rassismus, Kolonialismus und Machtstrukturen umzulenken. Wie konnte das schon wieder passieren?
Schnelldurchlauf: Am 25. Mai wird der Afroamerikaner George Floyd von einem weißen Polizisten ermordet. Dass es in den USA daraufhin zu Massenprotesten kommt, liegt weniger an der Einzigartigkeit des Falls (für Schwarze Menschen, People of Color und Migrant*innen ist rassistische Polizeigewalt alltäglich), als vielmehr an der bloßen Tatsache, dass davon ein Video existiert. Die Empörung ist auch in Deutschland groß, Hunderttausende beteiligen sich Ende Mai an den Black-Lives-Matter Demonstrationen. Mit etwas Verspätung geht aus den Finger-Zeig-Protesten schließlich auch eine Debatte über Polizeigewalt und Rassismus in Deutschland hervor. Es folgen Diskussionsrunden, in denen sich zunächst ausschließlich weiße Personen über Rassismus unterhalten. Ein paar Statuen von Rassisten werden in Flüsse geworfen. Schwarze und PoC Jugendliche auf Demos in Berlin und Hamburg von der Polizei verkloppt. Irgendwann dazwischen erkennt Saskia Esken (SPD) „latenten Rassismus bei der Polizei“, zieht ihre Aussage dann aber ganz schnell wieder zurück. In Minneapolis wird die Polizeibehörde aufgelöst und in Berlin ein Antidiskriminierungsgesetz verabschiedet…
Inmitten dieser Geschehnisse schreibt Hengameh in der „taz“ schließlich eine polizeikritische Kolumne: Wohin mit den Beamt*innen, wenn wir die Polizei zwar abschaffen, nicht aber den Kapitalismus?, fragt Hengameh darin satirisch und kommt zu dem Schluss: „All Cops are berufsunfähig“ und gehören deshalb auf die Mülldeponie.
So weit so gut. Könnte man meinen. Nicht aber in einem Land, in dem die ungleiche Verteilung von Macht und Privilegien immer noch festlegt, wer so etwas sagen darf und wer nicht:
Wer weiß, alt und männlich ist, kann im Bundestag sitzen und den Holocaust als „Vogelschiss der Geschichte bezeichnen“ oder die frühere Integrationsbeauftragte Aydan Özoguz „in Anatolien entsorgen“. Ganz ohne Satire. Die Ermittlungen gegen Gauland wurden damals übrigens eingestellt, weil sie „vom Recht auf freie Meinungsäußerung gedeckt sind.“
Wer Böhmermann heißt, darf auch Schmähgedichte, doch wer PoC, migrantisch, jung und weiblich oder non-binary ist, darf so etwas nicht: Die Polizeigewerkschaft erstellte Strafanzeige gegen die Satire. Die „taz“ druckte zunächst einen Text, der Hengameh weiter diskreditierte und den rechten Hatern zum Fraß vorwarf. Die Kolumne wurde schließlich im Bundestag debattiert: in einer Sitzung, in der es eigentlich um rassistische Polizeigewalt gehen sollte. Übertroffen wird das Ganze nur noch davon, dass Seehofer dem Text eine Mitschuld an den (mutmaßlich durch Racial-Profiling-Kontrollen ausgelösten) Ausschreitungen in Stuttgart gibt und Hengameh in seiner Funktion als Bundesinnenminister anzeigt.
Immerhin das löste ein bisschen Aufregung aus: Klar, einen Recep Tayyip Seehofer will hier niemand haben. Passt auch nicht in das Selbstverständnis einer aufgeklärten Demokratie. Doch das Ganze ist nicht nur ein peinliches Pressefreiheits-Malheur. Was da gerade passiert, nennt man Derailing: Eine bewusst herbeigeführte „Entgleisung“ der Debatte. So ein Ablenkungsmanöver ist nicht nur richtig scheiße, sondern auch gefährlich: Statt sich weiter mit Rassismus in der Polizei und der deutschen Gesellschaft auseinanderzusetzen, geht Seehofer lieber gegen angebliche Volksverhetzung gegenüber Polizist*innen vor.
Das ist reinste Täter*in-Opfer* Umkehr! Und Seehofer fährt diese Taktik nicht zum ersten Mal. Beim Antidiskriminierungsgesetz warnte er vor einer „Diskriminierung“ seiner Beamt*innen, was einfach nur abstrus ist. Klar, können auch Polizist*innen Diskriminierung erfahren: als Schwarze, PoC, queere, dicke, alte, … aber eben nicht in ihrer Funktion als Polizist*in. Oder hat schon mal jemand was von der strukturellen und institutionellen Benachteiligung von Cops gehört? Etwa von Polizist*innen, die keine Wohnung finden, weil sie Polizist*innen sind?
Für marginalisierte Menschen sind solche Erfahrung aber real. Jeden fucking Tag. Beispiel Rassismus: Den haben sich weiße Menschen mal ausgedacht, um Kolonialismus und Sklaverei zu rechtfertigten, aber er wirkt bis heute: nicht nur auf dem Wohnungsmarkt, bei der Jobsuche und bei Polizeikontrollen, sondern auch wenn es darum geht, wer eigentlich gehört wird.
Mit Black-Lives-Matter wurden auch die Stimmen von Schwarzen, PoC und Migrant*innen in Deutschland lauter. Wer die als privilegierte weiße Person nicht hören wollte, hat mit Derailing also eine prima Strategie gefunden, um davon abzulenken und so dafür zu sorgen, dass marginalisierte Stimmen weiterhin marginalisiert und ungehört bleiben.
Nach den Geschehnissen in Stuttgart haben sich Politiker*innen aus allen Parteien bereits feierlich hinter die Polizei gestellt. Die gute, alte Ordnung wurde also wieder hergestellt und die Stimmen der Marginalisierten zum Schweigen gebracht.
Für alle Menschen, die das nicht akzeptieren wollen, kann das jetzt nur eins bedeuten: wir müssen wieder über Rassismus und Polizeigewalt reden. Und: volle Solidarität mit Hengameh.