Im Zuge der Corona-Pandemie haben seit Mitte März die Schulen geschlossen. Schüler*innen, von Grund- bis Berufsschule, lernen seitdem zuhause, beim sogenannten homeschooling. Wer hierbei erfolgreich ist, ist nicht zwingend einfach ein*e leistungsstarke*r Schüler*in. Erfolgreiches homeschooling ist ein Klassenprivileg. Auch die anstehenden Abschlussprüfungen sollen wie gehabt stattfinden, erklärt die Kultusministerkonferenz. Das ist für viele Schüler*innen ein Problem.
Mit der Forderung, die Abiturprüfungen in diesem Jahre abzusagen, sprach Schleswig-Holsteins Bildungsministerin Prien genau das an, wofür zwei Hamburger Schüler seit Tagen mit ihrer Petition zum sogenannten Durchschnittsabitur kämpfen: Die Erstellung eines Schulabschlusses (auch zum allgemeinen und mittleren Schulabschluss, nicht nur zum Abitur) durch die Errechnung des Durchschnitts der bisher erbrachten Leistungen. Keine Prüfungen. Nicht nur gesundheitlich sei es falsch, die Prüfungen wie gewohnt stattfinden zu lassen, argumentieren die Schüler, sondern auch psychologisch und gesellschaftlich: “Viele von uns haben Angst. Unsere Familien geraten in Existenznot und wir [sind] mit unseren Prüfungsvorbereitungen mittendrin. Nichts ist wie zuvor. Abgesagte Vorabiklausuren, chaotischer Onlineunterricht, Computer müssen mit Geschwistern und Eltern geteilt werden.” Es gäbe jetzt bessere Möglichkeiten, sich gesellschaftlich sinnvoll einzubringen, statt zu lernen.
Prüfungsvorbereitungen zwischen Existenzangst und Care-Arbeit, die plötzlich vermehrt stattfinden muss: Faire Prüfungsvorbereitung ist das nicht. Denn wer sich unter diesen Umständen gut auf eine Prüfung vorbereiten kann, ist privilegiert. Davon erzählt mir auch Abiturientin Ina: “Die Schule geht einfach davon aus, dass alle alles an Utensilien zuhause haben. Das Zuhause arbeiten funktioniert bei einigen gar nicht richtig. Es wird vorausgesetzt, dass man einen Laptop mit Kamera hat. Viele Mitschüler*innen haben keinen Drucker, aber die Lehrer*innen schicken viel Material zum Ausdrucken. Eine Mitschülerin meinte, dass sie die ganze Zeit Leute finden muss, bei denen sie drucken kann. Viele haben gesagt, dass sie das Geld nicht haben und strugglen mit Kosten für zum Beispiel Druckerpatronen.” Ina sagt, sie habe beim Online-Unterricht Anwesenheitspflicht. Das Videoprogramm, über welches der Unterricht läuft, ließe sich auf ihrem alten Smartphone allerdings gar nicht öffnen. Das Smartphone ist für den online-Unterricht in ihrer Klasse übrigens eine Voraussetzung. Was passiert mit Schüler*innen, die die materiellen Voraussetzungen nicht erfüllen?
Dass die Chancenungleichheit beim homeschooling noch größer wird, erlebt auch Olga. Sie ist 35 Jahre alt, hat zwei Kinder im Grundschulalter, befindet sich in einer Umschulung zur Erzieherin und soll Anfang Mai in Hamburg ihre Abschlussprüfungen schreiben. Nicht nur für Olga fällt das Klassenzimmer weg, in dem sie normalerweise von 7:30 bis 15:15 Uhr lernen würde, sondern auch für ihre Kinder. Anstatt sich nach dem Frühstück an ihre eigenen Schulaufgaben zu setzen, sitzt Olga erst mit ihrem Sohn, dann mit ihrer Tochter zusammen. Auch ihren Kindern fehlen die Lehrkräfte, sie brauchen Hilfe. Nach den Schulaufgaben kocht Olga Mittagessen, geht mit ihren Kindern in den Wald. Ihr Mann arbeitet tagsüber. Viel Zeit und Ruhe für ihre Prüfungsvorbereitung bleibt ihr nicht. “Wir brauchen wenigstens zwei oder drei zusätzliche Wochen mit Lehrer*innen, damit die alles mit uns durchgehen. Das wäre schon nötig”, sagt Olga. Sie fühlt sich in der Prüfungsvorbereitung benachteiligt. “So eine Prüfung schreibt man nicht jedes halbe Jahr. Das ist eine Abschlussprüfung und dann hast du eine Note, die dich dein Leben lang begleitet, wenn du in deinem Beruf arbeiten möchtest”.
Nicht nur im Berufsalltag wird diese Note die Absolvent*innen begleiten, auch eine mögliche akademische Karriere kann durch eine gut benotete Prüfung möglich oder unmöglich gemacht werden. Viele Erzieher*innen streben mit ihrem Abschluss ein Studium der Sozialen Arbeit an, der NC ist in den Großstädten hoch. Durch die ungleiche, unfaire Chance der Prüfungsvorbereitung verschärft sich die Chancenungleichheit also auch insofern, als dass die Zugänge für Menschen, die unbezahlte, häusliche Reproduktionsarbeit übernehmen, schwerer zu erreichen sind. In den meisten Fällen sind diese Menschen Frauen. Ungleiche Chancen durch Reproduktionsarbeit, fehlende Mittel zur Anschaffung von Materialien oder auch Barrieren durch Sprache sind nicht nur zu Corona-Zeiten real, jedoch sind sie nun noch klarer zu erkennen.
Längst nicht alle Schüler*innen sind Fans des Durchschnittsabiturs, bei dem keine Prüfungen geschrieben werden sollen: Für einige Schüler*innen sind die Prüfungen eine Möglichkeit, ihre Leistungen zu verbessern. Andere hätten die Sorge, ihr Schulabschluss würde von Arbeitgeber*innen ohne Prüfungen nicht ernst genommen werden. Doch eine Lösung braucht es auf jeden Fall, so sehen das auch Ina und Olga. “Eine Lösung wäre, die Prüfung vielleicht zu reduzieren. Statt zwei Prüfungen, die wir schreiben müssen, nur eine Prüfung zu schreiben. Das wäre für mich machbar. Eine andere Lösung wäre natürlich, die Prüfungen zu verschieben.”, sagt Olga. Die zwei Hamburger Abiturienten Paul und Filippa haben im Zuge ihrer online-Petition innerhalb von fünf Tagen über 100.000 Unterschriften für das Durchschnittsabitur bekommen, eine Umsetzung ihrer Forderung scheint aktuell unrealistisch. Ein klares Zeichen, dass es deutliche Lösungen braucht, ist es trotzdem.