„Ein Hungerstreik ist ein sehr drastisches Mittel, um seinen Protest gegen Missstände zu zeigen. Die Untätigkeit der deutschen Regierung und des Bundesinnenministeriums veranlasste nun drei Aktivist_innen unter dem Namen „Coloured Rain“ diesen Schritt zu gehen“, lese ich in einer Nachricht mit der Überschrift „!!Teilen!!.
Mein Herz schlägt schneller. Ich versuche zu verstehen, was das heißt. In dem Moment sitze ich gerade im Auto mit meiner Mutter. Ich will ihr erzählen, was ich gerade gelesen habe: dass drei Jugendliche, zwei davon aus Landau und einer aus Dresden in den Hungerstreik getreten sind, um zu fordern, dass die griechischen Geflüchtetenlager sofort evakuiert werden und mehr unbegleitete Minderjährige in Deutschland aufgenommen werden sollen. Mir ist es zwar unangenehm, doch meine Stimme bricht weg, weil ich etwas weinen muss. Ich versuche, mich zusammenzureißen, weil mir das irgendwie übertrieben erscheint. Hungerstreik – bei dieser Aktionsform denke ich als erstes an Ghandi.
Ich weiß noch nicht, wie ich den Streik einordnen kann. Wie wahnsinnig lese ich alle Posts auf dem Instagramaccount von cxlxured_rain und schaue mir die gespeicherten Stories an. Zu Hause bei meiner Mutter, schreibe ich in eine Signalgruppe, in der ich mich politisch organisiere. Zwei Stunden später sitze ich mit zwei Freundinnen aus Berlin in einem digitalen Meeting und wir beschließen, gleich am nächsten Tag nach Landau zu fahren. Damit hatte ich nicht gerechnet, aber ich bin sehr gespannt darauf, mehr über den Hintergrund der Aktion und die Aktivist_innen zu erfahren.
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Am frühen Abend telefoniere ich mit Lovisa aus Landau, die sich zu dem Zeitpunkt im dritten Hungerstreiktag befindet. Es ist der 1. Mai und ihre Mitstreiter_innen sind nach Karlsruhe auf die Demonstration gefahren, um dort auf ihr Anliegen aufmerksam zu machen. Sie selbst hat sich nicht gut an dem Tag gefühlt, weil sie Kreislaufprobleme hatte. Es stellt sich heraus, dass ihre Freundin Clara nur einen Tag bevor sie den Hungerstreik begannen, ihre Freundin Lovisa anrief und sie die Aktion dingfest machten. Schon vorher hatten sie über dieses Mittel als Aktionsform nachgedacht und nun erschien es so, dass die Lage in den Geflüchtetenlagern ihnen keine andere Wahl mehr ließ.
„Die letzte Möglichkeit, unseren Forderungen Ausdruck zu verleihen“
Einer der Jugendlichen ist Laurenz, 19 Jahre alt, aus Dresden. Er hat über Instagram von der Aktion „Coloured Rain“ mitbekommen und sich daraufhin angeschlossen. Unter einem Bild, auf dem er ein krakelig geschriebenes Stück Pappe mit den Worten „Hungerstreik Tag 2“ hält, lese ich: „Ich sehe in diesem drastischen Mittel meine letzte Möglichkeit, unseren Forderungen Ausdruck zu verleihen.“
Lovisa berichtet mir, dass sie tagsüber auf dem Rathausplatz in Landau sitzen und mit Passant_innen über die Situation der Geflüchteten sprechen. Sie wünschen sich vor allem die schnelle Verbreitung ihrer Aktion, damit die Forderungen an Stärke gewinnen. Und bis zu einem gewissen Grad haben sie damit schon Erfolg. Yaser und Milad haben am zweiten Streiktag von der Aktion Wind bekommen und schicken zwei Videos aus Moria, um von ihrer Situation zu berichten und sich für die Solidaritätsbekundungen zu bedanken.
Als ich die Videos der beiden ansehe, kommen mir wieder die Tränen. Ich bin gerührt darüber, dass die Aktion den jungen Menschen vor Ort etwas Kraft und Hoffnung geben konnten. Doch kurz darauf frage ich mich, ob das nicht etwas merkwürdig ist. Die beiden Jugendlichen ungefähr im selben Alter der Aktivist_innen aus Deutschland bedanken sich bei den Europäer_innen für ihre Trostspenden? Eigentlich sind wir doch diejenigen, die dafür verantwortlich sind, dass die geflüchteten Jugendlichen überhaupt in Moria gefangen sind.
Die Jugendlichen wenden unglaubliche Kräfte auf, um wirklich etwas zu verändern
Dieses Gefühl, dass der Hungerstreik etwas Pathetisches hat, lässt sich nicht wegwischen, doch was eigentlich dahintersteht ist, dass die Jugendlichen unglaubliche Kräfte aufwenden, um wirklich etwas an der gegenwärtigen Situation zu ändern. All die Demonstrationen, Petitionen und Kampagnen haben bis heute nichts an der menschenverachtenden Lage der Gefangenen an den Grenzen geändert. Trotz dem mehr als deutlichen Hinweis der Ärzt_innen vor Ort, dass die Lager aufgrund der Gefahrenlage der Covid-19-Pandemie sofort geräumt werden müssten, bewegt sich nichts in der Politik.
Als ich im Regionalzug durch die Pfalz tuckere, schreibe ich mir noch einige Fragen auf, die ich den Jugendlichen stellen will. In Landau angekommen sehe ich auf dem Vorplatz einer Kirche zehn junge Menschen auf dem Boden sitzen. Einige spielen Musik und andere unterhalten sich. Um sie herum liegen mehrere große beschriebene oder bemalte Transparente. Auf einem steht „Wir sind im Hungerstreik“, auf einem anderen ist in der Mitte eine große Erde gemalt und um diese herum steht: „You are never too small to make a difference“.

Der Tag, an dem ich anreise, ist der vierte Hungerstreiktag der Jugendlichen. Mittlerweile haben sich sieben Jugendliche zusammengefunden, um in einen unbefristeten Hungerstreik zu treten. Ich sehe Lovisa in der Sonne angelehnt an einen großen Blumenkasten stehen. Sie hat sehr kurze blonde Haare, trägt einen dicken Schal und hat sich eine Decke um die Schultern gehängt. Weil wir uns schon vom Telefongespräch am Vorabend kennen, laufe ich erst einmal auf sie zu, um zu fragen, wie es ihr geht. Sie fühlt sich etwas schwach, aber freut sich, dass wir aus Berlin angereist gekommen sind.
Zunächst einmal eröffnen wir ein Plenum in einem großzügigen Sitzkreis, um Abstand zueinander zu halten. Nachdem sich alle vorgestellt haben, geht das Plenum direkt zum Inhaltlichen über. Wir Besucher_innen dürfen zunächst unsere Fragen stellen. Ich frage, warum die Jugendlichen gerade das Mittel des Hungerstreiks gewählt haben und packe gedanklich wieder meinen Ghandi aus. Warum haben sie sich in ihrer Lage nicht für eine andere Aktionsform entschieden? Ein Argument ist, dass man durch dieses Mittel mit Wenigen und Wenigem sehr viel bewirken kann. Charlotte, eine der Aktivistinnen sagt: „Uns geht es hier eigentlich gut und ich finde, es ist ein wichtiger Moment, ein Zeichen zu setzen. Das ist eigentlich ohne Frage, dass man sowas machen sollte – auch wenn es für viele hart ist. Es ist manchmal notwendig.“ Danach diskutieren die Jugendlichen ihre Forderungen und wägen ab, wie viel sie fordern können, ohne sich selbst in eine zu gefährliche Lage zu bringen, aber doch auch nicht an Radikalität einbüßen zu müssen.


Ich beobachte die Diskussionen gespannt. Protokoll wird auf dem Smartphone geführt. Ich habe das Gefühl, dass einige sehr gut informiert sind. Es wird vorgeschlagen, eine bestimmte Anzahl von minderjährigen Geflüchteten, die aufgenommen werden sollen, festzulegen. Eine Person wirft ein, dass man diese Forderung unablässig erneuern müsse. Gerade durch die Klimaveränderungen werde es sobald kein Ende nehmen, dass Menschen nach Europa fliehen.
Ich halte mich in den Diskussionen am Rande, denn ich bin zwar als Unterstützerin gekommen, doch ich will die Aktivist_innen nicht in ihrer Dynamik stören. Auf der anderen Seite merke ich, dass die ganze Aktion sich sehr spontan entwickelt hat und man vieles vorher noch nicht bedacht hatte. Die Aktivist_innen befinden sich mitten im Prozess festzulegen, was genau sie fordern wollen und mit welchen Mitteln. Ich bin gespannt, wie sich diese neue Bewegung entwickelt und wie erfolgreich ihre Forderungen umgesetzt werden.