Der Rechtsstaat in Deutschland ist ein Traum: die Polizei verfolgt Straftäter, egal welche Position oder wie viel Einfluss sie besitzen, und unabhängige Richter und Staatsanwälte verurteilen sie. Alles streng nach Recht und Gesetz.
Für die Oury-Jalloh-Initiative hat dieser Traum allerdings kaum etwas mit der Realität zu tun, die sie seit mehr als einem Jahrzehnt erleben. Seit 2005 bemühen sich deren Mitglieder um Aufklärung in einem Todesfall, der die Stadt Dessau in Sachsen-Anhalt damals bundesweit in die Schlagzeilen brachte. Am 7. Januar war Oury Jalloh dort in einer Polizeizelle ums Leben gekommen. Er soll sich selbst angezündet haben. Mouctar Bah von der Initiative ist heute noch aufgebracht, wenn er daran zurückdenkt. „Warum sollte Oury Jalloh sich selbst umbringen?“, fragt er. „Warum sollte er sich selbst anzünden? Und wie kann jemand in Deutschland bei der Polizei einfach so sterben?“ Diese Fragen hätten er und seine Freunde an dem Tag auch den Polizisten stellen wollen. Statt Antworten, drohten die ihnen mit Platzverweisen und Anzeigen. „Wir haben überhaupt keine Informationen über den Tod unseres Freundes bekommen“, sagt Mouctar. „Deshalb haben wir eine Demonstration organisiert, wir wollten Aufklärung“. Mehr als hundert Menschen nahmen an der sehr emotionalen Veranstaltung teil. Einen Tag später gründete sich die Oury-Jalloh-Initiative in Dessau, um eine Antwort auf die Frage zu bekommen, wie ein Mensch in einer Polizeizelle verbrennen kann.
___STEADY_PAYWALL___

Über ein Jahrzehnt keine Aufklärung
14 Jahre später gibt es die immer noch nicht. Polizei und Staatsanwaltschaft verfolgten von Anfang an die These, Oury Jalloh habe sich selbst angezündet. Dabei zeigt der Fall zahllose Ungereimtheiten und lässt offene Fragen zurück. Die lassen die Initiative einen grausigen Verdacht formulieren: Polizisten sollen Oury Jalloh zuerst misshandelt und danach angezündet haben. „Für die Öffentlichkeit ist das natürlich schwer zu glauben“, erzählt Thomas Ndindah. Der freiberufliche Arzt aus Leipzig engagiert sich seit 2013 in der Initiative. Er nennt dieses Verhalten einen „psychologischen Schutzmechanismus“. „Die Polizei will ja eigentlich dein Freund und Helfer sein“, führt er weiter aus. „Und wenn du plötzlich die Möglichkeit einräumen musst, diese Freunde und Helfer könnten einen Menschen angezündet haben, dann bringt das erstmal dein ganzes Weltbild durcheinander“.
In einem ersten Prozess vor dem Landgericht Dessau wurden die angeklagten Polizisten 2008 noch freigesprochen, obwohl der Richter beim Urteil sogar verkündete, die Polizeibeamten hätten gelogen und eine rechtsstaatliche Aufklärung verhindert. Im darauffolgenden Revisionsverfahren vor dem Landgericht Magdeburg in den Jahren 2011/12 wurde der diensthabende Polizist zwar verurteilt, allerdings nur zu einer Geldstrafe wegen fahrlässiger Tötung. Auch hier ging das Gericht davon aus, Oury Jalloh habe sich selbst angezündet. Der Bundesgerichtshof bestätigte das Urteil 2014. Anfang April 2017 kam es dann zu einem besonderen Ereignis: Nach über zwölf Jahren räumte der Leitende Oberstaatsanwalt in Dessau in einem Aktenvermerk ein, dass sich Oury Jalloh wohl nicht selbst angezündet haben könne und leitete Mordermittlungen gegen konkret benannte Polizeibeamte ein. Daraufhin wurde ihm der Fall entzogen und an die Staatsanwaltschaft in Halle übergeben. Die stellte nur wenige Monate später das Verfahren ein. Aktuell prüft nun die Generalstaatsanwaltschaft in Naumburg, ob es dabei bleiben soll. Erst wenn das juristische Verfahren abgeschlossen ist, setzen sich zwei vom Landtag in Sachsen-Anhalt bestellte Sonderberater an den Fall. Der Ausgang ist offen.
Keine Aufklärung ohne die Initiative
Die Initiative setzt keine großen Hoffnungen in die Ermittlungen von Justiz und Politik. „Ich habe das Vertrauen in den Rechtsstaat total verloren“, meint Mouctar. Anfangs wollte er den Stimmen nicht glauben, die skeptisch waren, dass der Tod Oury Jallohs jemals juristisch aufgeklärt werden würde. Die Initiative begleitete jeden Prozesstag, organisierte Demonstrationen, Kundgebungen, Veranstaltungen und startete Petitionen, in denen sie eine Aufklärung forderten. „Aber es hat sich irgendwann gezeigt, dass außer uns niemand Aufklärung wollte“, erinnert sich Nadine Saeed, die sich seit 2009 in der Initiative engagiert. „Dann haben wir gesagt, okay, dann müssen wir das eben selbst machen“.
Die Initiative geht in die Offensive, sammelt Spenden und gibt ein unabhängiges Brandgutachten in Auftrag. Weil sich in Deutschland kein Experte findet, der das für sie durchführen möchte, engagiert sie Experten aus dem Ausland. Aus dem Gutachten geht hervor, dass ein Brandergebnis, wie es bei Oury Jalloh der Fall gewesen ist, nicht ohne Brandbeschleuniger erreicht werden kann. Das Gutachten rief ein breites Echo in der Medienlandschaft hervor und gab der Initiative neue Anerkennung. „Mit dem Gutachten haben wir uns entkriminalisiert“, meint Nadine. „Seither werden wir als Experten wahrgenommen und die These vom Selbstmord von Oury Jalloh wird endlich auch von der Öffentlichkeit angezweifelt.“

Im Bild drei Vertreter der Initiative Oury Jalloh, die getroffen ins Leere blicken.
© Tim Lüddemann
Verfolgung weil sie Aufklärung fordern
Mitglieder der Initiative stehen immer wieder vor Gericht. Aktuell ist ein Mitglied wegen versuchter gefährlicher Körperverletzung angeklagt. Der Vorwurf: Er soll Feuerzeuge in Richtung mehrerer Polizisten geworfen haben. Bei Verkehrskontrollen und auf Demonstrationen werden Mitglieder der Initiative systematisch abgefilmt, festgehalten und kontrolliert. Besonders stark sind die schwarzen Mitglieder davon betroffen.
2009 wurde Mouctar Bah für sein Engagement die Carl-von-Ossietzky-Medaille verliehen. Vier Tage nach der Verkündung stürmte die Polizei seine Wohnung. Der aus der Luft gegriffene Vorwurf lautete, Mouctar würde mit Jeanshosen hehlen. Im gleichen Jahr stürmte die Polizei das Telecafé von Mouctar Bah, das er in Dessau betreibt, einen Tag vor der Revisionsverhandlung am Bundesgerichtshof in Karlsruhe. Die Polizisten zwangen ihn und seine Freunde, sich nackt auszuziehen, durchsuchten sie und hielten sie fest. Solange bis der Abholtermin für den gemieteten Kleinbus zur Fahrt nach Karlsruhe verstrichen war. Der unbegründete Vorwurf lautet damals, Mouctar würde mit Drogen handeln. Die Polizei entschuldigte sich zwar im Nachhinein für den Einsatz, Konsequenzen gab es für sie aber keine. Mouctar Bah hingegen wurde danach die Gewerbelizenz für sein Telecafé entzogen, weil die wiederholten Polizeieinsätze angeblich auf „charakterliche Mängel“ schließen ließen.
2012 griffen Polizisten auf einer Gedenkdemonstration Mitglieder der Initiative an, schlugen sie zusammen. Mouctar Bah musste mit einer Gehirnerschütterung ins Krankenhaus. Der Grund: die Polizei wollte ein Plakat konfiszieren, auf dem „Oury Jalloh – Das war Mord!“ stand, obwohl die Initiative 2006 selbst in einem Prozess vor dem Oberverwaltungsgericht erstritten hatte, dass diese Äußerung von der Meinungsfreiheit gedeckt ist. Doch nicht die Polizisten wurden strafrechtlich verfolgt, sondern Mouctar Bah wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte. Insgesamt wurde er fast zwei Dutzend mal wegen dieses Vorwurfs angezeigt und jedes Mal freigesprochen.
Nadine erzählt, dass es eigens angefertigte Dossiers über Personen aus dem Umfeld der Initiative beim Staatsschutz gebe. Darunter befände sich sogar ein Landtagsabgeordneter. Das hätten sie von einer Aussage eines Polizisten vor Gericht erfahren. Auf die Frage, woher der Auftrag käme, hätte dieser „von ganz oben“ geantwortet. Diese Dossiers würden vor jeder ihrer Demonstrationen allen Einheiten der am Einsatz beteiligten Polizisten vorgelegt. Einer der Staatsschützer würde offensiv Menschen dazu auffordern, Anzeigen gegen Mitglieder der Initiative zu erstatten. Ihre Telefone würden überwacht, SMS und Telefonanrufe blockiert. Dazu kommen Morddrohungen und Beleidigungen von organisierten Neonazis. Die Mitglieder der Initiative müssen viel aushalten. Einige mussten deshalb ihr Engagement bereits beenden.
Das ist Rassismus
Für die Initiative ist der Tod Oury Jallohs kein Einzelfall. „Oury Jalloh zeigt den institutionellen Rassismus in diesem Land auf“, ist sich Mouctar Bah sicher. „Er hat keine Straftat begangen. Die Frauen fühlten sich belästigt, weil er sie betrunken gefragt hat, ob sie ihm ein Telefon leihen können“, sagt er. Oury Jalloh sei schon wieder auf dem Weg nach Hause gewesen, als ihn die Polizei festnahm und ihn dann in die Polizeizelle brachte, in der er ums Leben kam. „Wenn er ein weißer Mann gewesen wäre, wäre das alles nicht passiert“.
Thomas sieht einen noch größeren Zusammenhang. „Der Rassismus von heute, der Rassismus, den Oury Jalloh erfahren hat und den so viele Menschen heute noch erfahren, weist eine Kontinuität seit dem Kolonialismus des 19. Jahrhunderts auf“, sagt er. Es gehe darum, den eigenen Rassismus zu hinterfragen, um Ungerechtigkeiten aufzudecken. In den Augen der Initiative ist die Justiz nicht unabhängig. „Es ist offensichtlich, wie Staatsanwaltschaft und Justiz zusammenarbeiten“, meint Nadine. Das zeige auch der letzte Skandal aus Dessau, bei dem eine Austauschstudentin aus China ermordet wurde. Die Mutter des Täters war Polizistin und es gibt den Vorwurf, dass sie mithilfe ihrer Kollegen versuchte, die Tat ihres Sohnes zu verdecken. Die Initiative fordert deshalb unabhängige Untersuchungsgremien bei Polizeigewalt. „Diese Forderung besteht bereits seit Jahrzehnten seitens nationaler wie internationaler Verbände und Institutionen“, sagt Thomas, „aber Deutschland verweigert sich einfach. Wir als Initiative realisieren diese unabhängige Kontrolle, ohne die elitären juristischen Privilegien und Deutungshoheiten – und wir zeigen, wie das faktenbasiert funktionieren kann“.
Irgendwann habe ich realisiert, Gerechtigkeit gibt es nicht für uns Schwarze
„Wir haben die Aufklärung in unsere Hand genommen, sonst wäre nie etwas passiert“, meint Nadine. „Selbstorganisation und Solidarität aus der Initiative haben das bewirkt und die geben uns allen Kraft. Der Weg ist zwar lang, aber ich bin mir sicher, dass wir den Fall aufklären werden“. Mouctar Bah hat eine traurige Erkenntnis für sich gezogen. „Irgendwann habe ich realisiert, Gerechtigkeit gibt es nicht für uns Schwarze“, meint er. „Wenn du in der Obhut der Polizei stirbst, brauchst du nicht zu hoffen, dass dein Tod aufgeklärt wird“. Der aktuelle Fall aus Kleve, bei dem ein Syrer in einer Zelle verbrannt ist, gibt diesem Satz einen besonderen Schrecken.
Angst wegen ihres Engagements haben Nadine, Mouctar und Thomas nicht. Die Initiative, Freunde und die vielen Unterstützer geben ihnen Sicherheit. „Es gibt immer mal wieder ein Tief“, meint Nadine. „Aber ich weiß, dass viele Menschen hinter uns stehen und uns unterstützen“. Gerade hat eine internationale Expertenkommission im Auftrag der Initiative Untersuchungsergebnisse zum Tod Oury Jallohs und zwei weiteren Todesfällen im Polizeirevier Dessau veröffentlicht. Mouctar Bah ist sich sicher, dass ihre Arbeit weitergeht. Aber er erzählt auch, das jahrelange Engagement zeige seine Spuren. „Dieser Weg hat Kraft, meine Familie, Freunde gekostet. Aber ich hatte nie Rachegefühle, ich wollte immer nur Aufklärung. Und ich bin mir sicher, dass wir irgendwann die Gerechtigkeit für Oury Jalloh wieder herstellen“.
Ungereimtheiten zum Tod Oury Jallohs:
Oury Jalloh wurde am Morgen des 7. Januar 2005 von der Polizei in Dessau festgenommen, nachdem sich zwei Frauen von ihm belästigt fühlten. Angetrunken von einer Party kommend, hatte er sie gefragt, ob er ihr Telefon benutzen dürfte. Im Polizeirevier wurde er an Händen und Füßen auf einer feuerfeste Matratze fixiert. Gegen 12Uhr brach in seiner Zelle ein Feuer aus; die Rauchmeldeanlage ertönte und wurde zwei mal abgeschaltet, bevor sich die Polizeibeamten zu der Zelle begaben. Um 12:36 Uhr löschte die Feuerwehr. Das Feuerzeug, mit dem sich Jalloh angezündet haben soll, wurde erst drei Tage später gefunden. Nach dessen Untersuchung konnten daran nur tatortfremde und keinerlei Spuren aus der Zelle oder von Oury Jalloh gefunden werden. Auf dem Boden der Zelle befand sich nachweislich eine Flüssigkeit. Diese wurde weder von der Spurensicherung, noch vom Gericht untersucht. Eine Obduktion des Leichnams ergab, dass er weder Kohlenmonoxid oder andere giftige Rauchgase eingeatmet und auch keine Stresshormone zum Zeitpunkt seines Todes produziert hatte. Dies legt nahe, dass er bei Beginn des Brandes bereits tot gewesen sein muss. Seine Nase war gebrochen. Die Aussagen der Beamten im ersten Prozess glichen sich nahezu eins zu eins.


