Mit einem grummeligen „Hallo“ betritt ein Mann mittleren Alters den vollgestellten Lebensmittelladen in einer tunesischen Kleinstadt und fragt nach Öl. Harun steht auf. „Er ist ein großes, großes Arschloch“, sagt er lauthals, während er dem Mann das günstige aber knappe Bratöl abfüllt, das für verlässliche Kunden in einer Ecke versteckt ist. Er ist sich sicher, dass der Mann kein Englisch versteht. Oft benutzt er die Sprache, um sich über Kunden in deren Anwesenheit aufzuregen. Wenn sie ihn fragen, ob er sie beschimpft, beteuert er – halb ironisch – nur gerne sein Englisch zu praktizieren. Beim Abkassieren lästert er noch ein bisschen und überlegt im Nachhinein, dass ein „Fuck you!“ wohl doch für fast jeden zu verstehen sein müsste. Schlimm findet er das nicht, er sage ja bloß die Wahrheit, meint er lachend.
Harun ist müde. Der am Stadtrand gelegene Laden ist der einzige in seiner näheren Umgebung und daher stets gut besucht. Haruns Cousin, der Ladenbesitzer, ist heute Fischen, deshalb muss Harun den Laden von 10 bis 21 Uhr am Laufen halten. Wenigstens etwas Gutes bringe Corona mit sich: Die Leute kommen nicht so häufig und kaufen lieber einmal groß ein. Das erlaubt ihm etwas mehr Ruhe.
Tunesien und das falsche Versprechen der Demokratie
Als einziges Land in der arabischen Welt ist Tunesien mit einer zukunftsfähigen und überarbeiteten demokratischen Verfassung aus dem sogenannten Arabischen Frühling gekommen. Während in vielen anderen Ländern sich die Lage nach den revolutionären Umbrüchen ab Ende 2010, vor allem aber im Frühjahr 2011 sogar verschlechterte, konnte Tunesien die Errungenschaften von relativer Meinungs- und Pressefreiheit feiern und erste, freie demokratische Wahlen abhalten. Ein Vorzeigebeispiel also und vielleicht ein Hoffnungsschimmer für alle, die stets zweifeln, ob eine Demokratie in einem arabischen Land überhaupt funktionieren könnte. Diese augenscheinlich großartige Revolution feiert im Dezember ihren zehnten Geburtstag, das Fazit: Tunesien ist eine Demokratie, und aus europäischer Sicht damit ein sicheres Herkunftsland.
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Doch es gibt einige, die bislang noch nicht vom demokratischen Prozess profitiert haben. Denn oft ginge es nur um Politik, nicht um wirkliche Freiheit, meint Karam, ein Mitarbeiter der Organisation Mawjoudin – arabisch für „Wir existieren“ –, die sich für die Rechte von Homosexuellen und anderen sogenannten LGBTIQ-Personen (Lesbian, Gay, Bisexual, Trans, Inter, Queer) einsetzt. Karam möchte wie Harun seinen vollen Namen nicht nennen, um sich selbst zu schützen. „Die europäischen Länder wollen Tunesien auf einem demokratischen Weg sehen, um die (illegale) Migration loszuwerden.“ Unter anderem deshalb stuft man Tunesien als sicheren Ort ein, der er vor allem für die LGBTIQ-Community jedoch nicht ist. Obwohl Homosexualität in Tunesien per Gesetz illegal ist, wird den Menschen die Möglichkeit genommen, in Europa Asyl zu beantragen.
Wenn der junge Schwule Harun einmal aus seinem Küstenstädtchen in die Hauptstadt Tunis kommt, geht er feiern. In dem am Meer gelegenen Vorort Gammarth, der aus teuren Villen und Nachtclubs besteht, tummeln sich junge Menschen mit unterschiedlichen Interessen und Bedürfnissen. Dass der 24-Jährige dort einen Mann findet, mit dem er möglicherweise sogar nach Hause gehen kann, heißt das noch lange nicht. Ein Kuss hingegen ist meistens schon drin, da fackelt Harun auch nicht lange. Und er versucht, sich über das Internet zu verabreden, um die Zeit in der Hauptstadt auszunutzen. Er weiß, dass er so schnell nicht wiederkommen wird, denn nur manchmal kann er seinen Cousin dazu bringen, ihm zwei Tage freizugeben.
Freiheit gegen Geld
Die Clubszene von Tunis lässt sich zwar nicht mit Berlin vergleichen, dennoch gibt es am Wochenende etwa zwei Hände voll Partys zur Auswahl. Aber feiern kostet Geld, und wer außerhalb der Hauptstadt wohnt, muss die Anreise mit einberechnen. Nicht zuletzt deshalb besteht die aktive LGBTIQ-Community in Tunesien zu großen Teilen aus der gesellschaftlichen Elite. Um in Tunesien seine von der Norm abweichende Sexualität ausleben zu können, bedarf es eines sicheren Ortes, den die eigene Familie nur selten bietet. Einen Bruch mit dieser können sich aber nur die wenigsten leisten, da sowohl die Gesellschaftsstruktur als auch die schlechte ökonomische Lage eine enorme Abhängigkeit von der Familie verursachen. So haben vor allem Personen aus liberalen und wohlhabenden Familien die Möglichkeit, ihre Sexualität frei zu leben. Dass queere Personen allerdings in jeder Gesellschaftsschicht existieren, ist den Aktivist*innen von Mawjoudin bewusst. Darauf wollen sie aufmerksam machen und diese Menschen erreichen. Sie bieten psychologische, medizinische, finanzielle und rechtliche Unterstützung an. In verschiedenen Seminaren können sich queere Personen untereinander austauschen, aber auch mit Supporter*innen über ihre Bedürfnisse sprechen.
Haruns Alltag ist von einer solchen Gemeinschaft weit entfernt. Seine Heimatstadt liegt drei Autostunden von der Hauptstadt entfernt. Niemals hat er an einem solchen Treffen teilgenommen. Das hat mehrere Gründe: Harun leidet täglich an der Unmöglichkeit, mit seiner sexuellen Identität einen Platz in der Gesellschaft zu finden. Er weiß, dass es für ihn so einfach keine Lösung dafür gibt. Das wieder und wieder festzustellen, reiße seine Wunden unnötig auf, erzählt er. Zu oft hat Harun negative Erfahrungen mit missbrauchtem Vertrauen gemacht. Selbst einige seiner ehemaligen Sexualpartner haben Harun vor Freunden bloßgestellt, während sie das Treffen als unbedeutend und spaßiges Ereignis abstempelten.
Dabei wünscht sich Harun Dates mit netten Unterhaltungen. Doch selbst wenn er für ein Treffen in eine der nahe gelegenen Städte fährt, fühlt er sich beobachtet. Die Menschen seien gefühlt nur auf der Suche nach Geschichten, die sie erzählen können, so Harun. In seiner Stadt leben fast alle Bewohner seit Generationen dort. Über Ecken kennt jeder jeden – und weiß über jeden Bescheid. Das hat zwar nicht nur Nachteile: Immer könne man jemanden finden für eine nette Unterhaltung oder der Hilfe anbietet. Im Gegensatz zur unübersichtlichen Großstadt herrschen hier Ruhe, Geborgenheit und Sicherheit. Aber eben nur solange man sich an den gemeinsamen Konsens hält, der von religiösen Vorstellungen geprägt ist. Homosexualität ist da ein rotes Tuch.
Gedanken im Kreis
Das Thema dominiert Haruns Gedanken ständig, erzählt er. Sein Umgang damit hat sich hingegen verändert. Früher habe er es gemieden, durch die Straßen der Innenstadt zu gehen – aus Angst vor den Kommentaren der Leute. Mittlerweile hat er mit der inneren Scham gebrochen. Dass er zu seiner Homosexualität steht, macht ihn selbstbewusst. Zwar muss er weiterhin vorsichtig sein, aber blöde Kommentare kontert er gekonnt mit einem „Soll ich kommen und dich ficken?“ – manchmal auf Englisch, manchmal auf Arabisch. Dass er offen konfrontiert wird, passiert ohnehin nur noch selten. Haruns Motto ist: „Man muss böse zu Menschen sein, denn Menschen sind böse.“ Durch diese Selbstvergewisserung schafft er es, vieles mit Ironie zu betrachten. Gleichzeitig ermöglicht ihm der Glaube an eine böse Natur des Menschen, über vieles hinwegzusehen.
Während er auch unter seinen Freunden anfänglich skeptisch betrachtet wurde, ist er heute der Mittelpunkt der kleinen Gruppe, die sich Abend für Abend im selben Café trifft, das zumindest einen sicheren Ort für das Rauchen von Marihuana bietet. Innerhalb der Clique lässt er sich gerne „Honey B“ nennen – inspiriert von dem berühmten Popsong „Telephone“ der Sängerin Lady Gaga. Dort hat er einen kleinen Platz gefunden, an dem er zu seiner Sexualität stehen kann. Aber selbst das Verhältnis zu seinen Freunden beruht auf einer Art Kompromiss: Sie akzeptieren ihn und seine Sexualität. Übertreiben sollte er aber nicht, denn auch er muss akzeptieren, dass es für andere noch immer etwas Fremdes ist. Dennoch: Vor drei Jahren hätte er sich nicht ausmalen können, Freunde zu finden, vor denen er seine Sexualität preisgeben kann.
Zu Hause ist das undenkbar. Harun lebt als Ältester von drei Geschwistern bei seinen Eltern. Als Teenager erzählte er seiner Mutter von seinem Interesse am männlichen Geschlecht und merkte schnell, dass dieses Thema in dem Haus nichts zu suchen hat. Wie die Zukunft aussehen wird, ist für ihn ungewiss. Eine Heirat mit einer Frau ist notwendig, um zu Hause auszuziehen und die Leute im Ort nicht misstrauisch zu machen. Die einzige Alternative hieße auswandern. „Nur, wenn ich außerhalb dieses Landes wäre, könnte ich über die Idee, ohne eine Ehefrau mein Leben zu verbringen, nachdenken.“ Denn selbst ein Umzug in die Hauptstadt könne ihn nicht von seiner Familie und deren Erwartungen befreien. Einer Flucht steht aber nicht nur die lebensgefährliche Umsetzung entgegen. Es wäre schwierig für Harun, Familie und Freunde zurückzulassen. Sollte sich allerdings die Möglichkeit ergeben, einmal zu verreisen, würde er sofort zusagen. Seit Langem wünscht er sich, ein anderes Land kennenzulernen. Und sich dabei vielleicht sogar zu verlieben.
Dieser Text ist zuerst bei nd.DieWoche erschienen.