Vor langer Zeit auf dem Weg zur Kita fragte mich mein heute 16-jähriges Kind nach der Bedeutung eines Plakats. Von wem das Plakat war, habe ich inzwischen vergessen, vielleicht war es von der Linken Partei, vielleicht von einer wohltätigen Institution. Es hat dafür plädiert, Armut abzuschaffen. Ich, die immer überstrapazierte, gehetzte Alleinerziehende, sagte schnell und ein bisschen ungeduldig:
„Sie wollen, dass es keine armen Menschen mehr gibt in Deutschland!“
Mein Sohn blieb stehen, starrte das Plakat an, räusperte sich: „Wollen sie die etwa töten, Mama?“
Ich lachte. Kinder sagen so absurde Dinge manchmal – arme Menschen töten, um Armut zu bekämpfen. Das ist eine elegante Lösung, oder?
Mittlerweile lache ich nicht mehr. Mittlerweile finde ich das nicht mehr absurd. Ich finde, dass die Politik der heutigen Bundesrepublik vielleicht nicht direkt den Tod für diese Menschen fordert, aber den Tod der Armen, der Abgehängten, der Schwachen in Kauf nimmt. Niemand dort wünscht sich das, aber es wird auch nicht verhindert.
Peter Hollinger, ein Kreuzberger Musiker, lebte seit den 80ern in seiner Wohnung, einem ehemals besetzten Haus in der Berliner Adalbertstraße. Nachdem das Haus in Eigentumswohnungen umgewandelt wurde, versuchte die Eigentümerin juristisch total einwandfrei -ihm sein Zuhause wegzunehmen: Sie pochte auf Eigenbedarf.
Und ihr Eigenbedarf war wichtiger als Hollingers Zuhause. Ihr Eigenbedarf war wichtiger als seine Würde. Ihr Eigenbedarf war sogar wichtiger als sein Leben. Während der Pandemie hat man viel über Eigenverantwortung geredet. Peter Hollingers Vermieterin findet ihren Eigenbedarf sehr, sehr viel wichtiger als ihre menschliche Verantwortung für andere, für ihre Mieter*innen. Und der deutsche Rechtsstaat ist damit einverstanden.
Die Nachbar*innen sind wütend und haben ehrliche, aufgebrachte Worte auf Facebook veröffentlicht. Es ist schwer, die Beschreibungen zu lesen, ohne unglaublich traurig, unglaublich wütend, unglaublich müde zu werden. Peter Hollinger hat in dem Haus, in seiner Wohnung, in seinem Zuhause fast vierzig Jahre gelebt. Krankheitsbedingt war ihm das Arbeiten schwerer gefallen, Familie hatte er keine.
Die Wohnung war sehr groß und daher in zwei Einheiten unterteilt – mit unterschiedlichen Eingängen. Die Nachbarsfamilie, mit der er sich die Etage teilte und die ebenfalls von der Zwangsräumung bedroht war, hatte bereits eine neue Wohnung gefunden. In deren alter Wohnung hätte die Eigentümerin ihren „Eigenbedarf“ in Anspruch nehmen können. Oder?
Ihre Tochter wäre dann dort eingezogen. Stattdessen hat sie vor Gericht erklärt, dass es unzumutbar wäre, dass ihre Tochter in der Nähe von jemanden leben muss, der psychisch krank ist. Das Gericht gab ihr recht – und Peter Hollinger nahm sich das Leben.
Die Eigentümerin hat absolut nichts Verbotenes getan – und doch hat ihre Entscheidung erst die Wohnung eines Menschen und dann sein Leben geraubt. Es ist sehr leicht, sehr verlockend zu hoffen, dass sie, trotz ihrer juristischen Siege, jetzt doch ein Hauch Menschlichkeit spüren wird und sich schämt.
Ich bin froh, dass ich nicht sie bin. Denn wenn ich sie wäre, würde ich über diesen Tod nachdenken – für den Rest meines Lebens.
Aber die Wahrheit ist: Es gibt starke Menschen und es gibt schwache Menschen. Die Eigentümerin denkt, dass Peter Hollinger schwach gewesen ist. Dabei sind sie und ihre Tochter die schwächsten Menschen dieser Welt – Menschen, die so brutal und so unmenschlich sind, wie die Gesellschaft in der sie leben. Wenn es gegen das Gesetz wäre, so unmenschlich zu handeln, würde diese Eigentümerin wahrscheinlich akzeptieren, dass dieser Tod ihr „Eigenbedarf“ nicht Wert ist. Aber da es legal ist, juristisch akzeptiert, akzeptiert sie es eben auch.
Versteht mich nicht falsch: Ich gehe nicht davon aus, dass diese Frau nach dem Tod Hollingers sofort ihre Tochter angerufen hat, um einen Champagner-Termin auszumachen. Sie ist bestimmt keine böse Frau. Aber sie ist moralisch schwach. Solange dieses Gesetz zum Eigenbedarf nicht geändert wird, wird es solche Fälle immer wieder geben. Die Menschen können nicht stärker sein als ihre Gesetze.
Ich plädiere – allein wegen Peter Hollinger – dafür, dass Eigenbedarf als Kündigungsgrund abgeschafft wird. Es wird immer opportunistische, unmenschliche, moralisch schwache Vermieter*innen geben, denen es egal ist, ob andere Menschen leben oder sterben. Es wird immer Richter*innen geben, die denken, dass das, was juristisch erlaubt ist, auch moralisch okay sein muss. Diese Menschen müssen gezwungen werden, menschlich zu handeln. Lasst uns Peter Hollingers Leben würdigen.