Einen Monat ist der Tod von George Floyd nun her. In den USA, Kanada, Frankreich und an vielen anderen Orten der Welt wird gegen rassistische Polizeigewalt protestiert. Und in Deutschland?
Anfang Juni hatte ich Hoffnung, dass sich hier auch etwas ändert. People of Color wie die Journalistin Hadija Haruna Oelker saßen in Talkshows. Sie repräsentierten nicht nur einen Bevölkerungsanteil, der selten in Medien vorkommt sondern betonten, dass Polizeigewalt und Rassismus in Behörden keine Einzelfälle sind.
Endlich ging es in Deutschland vereinzelt nicht mehr um individuelle Rassismuserfahrungen, dem Betroffenheitsvoyeurismus der “aufgeklärten” Weißen wurde sich verweigert.
In Berlin wurde ein Antidiskriminierungsgesetz erlassen, welches Betroffenen von staatlicher Diskriminierung ermöglicht, Anzeige gegen Polizist*innen zu stellen. Konservative und Polizeigewerkschaften sprechen aber von einem “Generalverdacht gegen die Polizei”.
Soweit, so reaktionär. Es bewegte sich etwas.
Am 15.06.2020 war jedoch wieder alles beim Alten. Die*der Autor*in Hengameh Yaghoobifarah schrieb in der taz eine Kolumne mit dem Titel “All Cops are berufsunfähig”. In der Satire wurde das Phantasma eines aufgelösten Polizeiapparats bei Fortbestehen des Kapitalismus und die Jobmöglichkeiten für die ehemaligen Staatsdiener durchgespielt. Wenig überraschend kommt eine Behörde mit Verstrickungen in Naziterrornetzwerke dabei nicht gut weg.
Eine Hasskampagne von konservativen Medien und Politiker*innen gegen Hengameh Yaghoobifarah begann, die*der Autor*in erhält seitdem Beleidigungen sowie Morddrohungen. Eifrig wurde die Glosse aus der Taz im Feuilleton zerrissen, Yaghoobifarah greife die Menschenwürde an, heißt es.
Am 18.06.2020 erschoss die Polizei in Bremen einen 54-jährigen Marokkaner, der unter Angststörungen litt. Ein veröffentlichtes Video zeigt, wie Mohamed Idrissi mit einem Messer bewaffnet auf einen Polizisten zuläuft. Man hört Schüsse, Mohamed stürzt und bleibt regungslos liegen. Im Krankenhaus stirbt er.
In Stuttgart gab es racial profiling, sagen manche
Am 20.06.2020 kommt es nach einer Drogenkontrolle eines Jugendlichen in Stuttgart zu Auseinandersetzungen zwischen der Polizei und verschiedenen Gruppen, die sich mit dem Minderjährigen solidarisieren. Bis zu 400 Menschen sollen in der Innenstadt Geschäfte entglast, Polizeiwagen angegriffen und Läden geplündert haben.
Die bürgerliche Presse entpolitisierte die Krawalle. Wie bereits nach dem G20-Gipfel in Hamburg wurde gefragt, woher der Wille zur Zerstörung komme. Wie kann es sein, dass so viele “unpolitische” Menschen sich spontan entscheiden, Widerstand gegen die Polizei zu leisten? Der Vorsitzende der Polizeivereinigung „Polizei Grün“, Oliver von Dobrowolski, schrieb auf dem Twitter zu den Vorfällen: „Aber sehr wohl gibt es auch in Deutschland Probleme: #OuryJalloh, #NSU, #NSU20, #Amri, #Kleve, #G20HH, #Uniter, #Hannibal, #Nordkreuz usw. usf. Was hat das alles denn (vielleicht) mit Stuttgart zu tun?“
Und die Migrantifa Stuttgart, die »entgegen der Behauptung von Alice Weidel und Co. an den Geschehnissen nicht beteiligt war«, verurteilte in einer Stellungnahme den »rassistischen Angriffs- und Denunzierungsversuch gegenüber Migrant*innen«.
Mitten im Schlossgarten seien 13-jährige Jugendliche kontrolliert und auf Drogen durchsucht worden, heißt es in der Erklärung. »Hierbei wurde der Schwarze Jugendliche noch einmal strenger drangsaliert«, schreibt die Initiative. »Das ist Rassismus.«
Am Sonntag 21.06.2020 spricht der baden-württembergische Innenminister Thomas Strobl (CDU) von Ausschreitungen „in nie dagewesener Qualität.” Wer sich an Ausschreitungen nach Fußballspielen, den Sturm auf Connewitz oder die Pogrome in Heidenau erinnert, sieht das vielleicht anders. Die Polizeigewerkschaft sieht den Grund der Ausschreitungen wiederum bei der SPD und den Grünen, da diese Rassismus und andere Missstände innerhalb der Polizei thematisierten. Es entstünde ein Klima der Feindlichkeit gegenüber der Polizei.
Schlechtes Ablenkungsmanöver
Auch Horst Seehofer nahm dankbar die Chance wahr, nicht über korrupte Politiker innerhalb der CDU oder strukturellen Rassismus zu sprechen. Stattdessen stellte er eine Verbindung zwischen der umstrittenen Taz-Kolumne und den Ausschreitungen in Stuttgart her. Und kündigte eine Strafanzeige gegen Hengameh Yaghoobifarah an.
Mit diesem Coup gelang es Horst Seehofer endgültig, dass weder über Polizeigewalt noch über (staatlichen) Rassismus gesprochen wird. Nun diskutiert Deutschland, zum 100. Mal, was Satire darf und was nicht. Für Journalist*innen wird Berichterstattung zum juristischen Minenfeld.
Es bestand nie Zweifel daran, dass Jan Böhmermanns rassistisches Schmähgedicht (Ziegenficker, Fellatio mit Schafen, Erdogan stinke nach Döner) auf dem Boden der Verfassung steht. Wieso sollte es dann ein Text tun, der Polizist*innen immerhin noch zutraut, Müllwerker*innen zu werden?
Die angedrohte Anzeige Seehofers ist juristisch sinnlos wie symbolisch gefährlich. Das weiß der Innenminister. Die Drohung war ein Symbolakt. Es war ein Ablenkungsmanöver.
Nun spricht Deutschland nicht mehr über Black Lives Matter, die Nichtaufklärung des NSU, Hanau, Halle, Chemnitz, über den Ex-Verfassungsschutzchef Maaßen und seine protofaschistischen Äußerungen, über Oury Jalloh, Achidi John, Ahmad A. und schon gar nicht über Mohamed Idrissi aus Bremen.
Am Montag 21.06.2020 veröffentlicht Mohameds Familie ein Video. Auf diesem sieht man Mohamed verwirrt mit einem Küchenmesser herumstolpern, während ihn vier Polizist*innen mit Schusswaffen bedrohen. Als ihn ein Polizist mit Pfefferspray attackiert, rennt Mohamed unkoordiniert in seine Richtung. Der Polizist ist auf dem Video nicht mehr zu sehen, es fallen Schüsse. Mohamed Idrissi wird später an seinen Verletzungen sterben.
Solidarität mit Hengameh Yaghoobifarah. Support Black Lives Matters, #Justice4Mohamed!