Ein Mob vermummter Polizisten rennt schreiend über die Eisenbahnstraße im Leipziger Osten. Sie verfolgen Passant*innen, die vor wenigen Sekunden noch auf der Kreuzung standen, um das zu beobachten, was sich derzeit in einer Parallelstraße abspielt. Ich selbst sitze in diesem Moment auf der Bank eines Restaurants an eben dieser Kreuzung. Ich sehe nichts, Personen, die ich nicht kenne, spülen mir das Pfefferspray aus den Augen. Im Hintergrund ein Knall. Glasflaschen zersplittern auf dem Asphalt.
Doch was war passiert?
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Früher am Abend, es war gerade kurz nach 22 Uhr, erreichte mich die Meldung, dass gerade eine Abschiebung stattfinden würde: Ein Anfang 23-Jähriger syrischer Kurde solle im Rahmen des Dublin-Abkommens nach Spanien abgeschoben werden. Vor der Tür eines Altbaus stehen bereits ein Notarztwagen, ein Krankenwagen und ein Wagen der Polizei. Auch an die 20 Personen haben sich versammelt. Sie wollten die Abschiebung nicht unkommentiert geschehen lassen.
Kurze Zeit später öffnet sich die Tür des Wohnhauses. Mit den Füßen voran wird eine Person im Tragetuch von zwei Sanitäter*innen abtransportiert. Sie scheint bewusst los. Später erfahre ich, dass sie die Mutter des jungen Mannes ist. Es heißt, sie wurde verletzt, als die Polizei die Wohnung stürmte. Ein weiterer Trupp mit Beamt*innen betritt kurz darauf das Haus. Nur wenige Augenblicke später tauchen sie wieder auf, in ihrer Mitte führen sie einen Mann ab.
Die Umstehenden sind kurz ratlos, unentschlossen, vielleicht auch schockiert, dass die erwartete Abschiebung nun so schnell und leise vonstattengehen soll.
Einige fragen die Polizist*innen, was nun mit dem Mann geschehen solle und ob sie denn kein schlechtes Gewissen dabei hätten, mitten in der Nacht eine Familie zu zerreißen. Auch der Vater des 23-Jährigen ist anwesend. Die Linken-Politiker Juliane Nagel erzählt später in der Leipziger Internet Zeitung, er habe die ganze Nacht nicht mit seinem Sohn sprechen dürfen.
Die Beamt*innen bleiben stumm, bahnen sich ihren Weg durch die nunmehr gut 30 Personen und verfrachten den jungen Mann in den dafür bereitstehenden Polizeiwagen. Die Situation wird hektischer und unübersichtlicher, Menschen rufen Dinge und appellieren an die Menschlichkeit der Polizei. Die etwa 10 Beamt*innen scheinen sichtlich überfordert. Bereits zum jetzigen Zeitpunkt scheint es der Polizei bereits lästig, sich mit einer Pressevertreterin auseinandersetzen zu müssen. Eine Polizistin schubst mich trotz erhobenem Presseausweis mehrfach und hört erst auf, als die Passant*innen empört auf meine Rolle als Berichterstatterin hinweisen.
Einige der Umstehenden haben in diesen zwei Minuten einen Entschluss gefasst – und sich vor den Wagen der Polizei auf die Straße gesetzt. Mit den Arme eingeharkt sitzen so etwa 20 Personen und wiederholen im Chor: „Say it loud, say it clear: Refugees are welcome here.“ Auch hinter dem Polizeifahrzeug haben sich noch einmal genau so viele Personen niedergelassen.
Länger passiert nun erstmal nichts. Die Polizei bekommt Verstärkung, umzingelt die Sitzblockaden. Auch jetzt muss ich weiter diskutieren, um nicht weggeschickt zu werden. Auf den Gehwegen sammeln sich nun immer mehr Personen. Schaulustige, so scheint es zunächst. Doch als bald stimmen auch diese Sprechchöre an und zeigen sich solidarisch mit den Blockierer*innen der Abschiebung. Immer wieder wird Wasser zu diesen durchgereicht, eine Person fragt einen Polizisten, ob er nicht Zigaretten in die Blockade geben könne. Der Polizist lässt ihn gewähren. Zum jetzt Zeitpunkt ist die Stimmung weniger aufgeladen, hier und da wird auch mal gewitzelt, immer mehr Menschen gesellen sich dazu. Am Ende der Straße hat man Sofas in die Mitte gestellt, die Menschen darauf rauchen und unterhalten sich. Ein paar Pflanzenpötte begrenzen die neu angelegte Sitzecke. Auffällig ist: die Menge besteht nicht, wie gewöhnlich, überwiegend aus weißen Studierenden, sondern aus einem sehr diversen Publikum, Viele sprechen Arabisch miteinander.
Etwa 400 bis 500 Personen sind wohl anwesend, als die Polizei brutal zwei Personen aus der Sitzblockade vor dem Polizeiwagen zerrt. Die Situation ist unübersichtlich, wieder werde ich von Polizisten mehrfach geschubst, den Presseausweis die ganze Zeit gut sichtbar in der Hand haltend. Um mich herum ein ähnliches Bild. Die Nerven einiger Polizisten liegen offenbar blank. Das Gerücht geht um, der Mann, der abgeschoben werden soll, sei in dem Moment der Unruhe aus dem Auto geholt worden, niemand weiß jedoch Genaueres. Gegenüber dem Journalisten René Loch bestätigt die Polizei dies zunächst, kurze Zeit später sieht man den Mann jedoch wieder von ihnen umzingelt. Dies scheint die Schlüsselsituation gewesen zu sein.
Die Polizei versucht sich ihren Weg zu bahnen und geht dabei mit einer Härte vor, die ich so sehr lange nicht mehr erlebt habe. Ich selbst, so wie eine weitere Pressevertreterin, die neben mir steht, werden in diesem Moment von einer Gruppe Polizisten mehrfach in einer Härte geschubst, dass wir schließlich fallen und in der Menge landen. Umstehende Passant*innen versuchen, uns aufzuhelfen, die Situation ist unübersichtlich. Weiter die Straße herunter werden Umstehende von der Polizei zwischen zwei Autos geschubst, eine Frau liegt auf der Motorhaube und bekommt keine Luft. Die Gesichter der Menschen sind vor Panik verzerrt.
In alle Himmelsrichtungen wird gerannt. Auf dem Bürgersteig auf der anderen Straßenseite liegt ein Bewusstloser. Zwischen dem Geschrei der Protestierenden und den gebrüllten Anweisungen der Polizei ist das Geräusch von zerberstenden Glasflaschen zu hören. Einige Polizisten nesteln an ihren Holstern oder haben das Pfefferspray bereits in der Hand. Ich bewege mich an der Seite, dicht an den Häusern, halte weiter den Presseausweis mit einer Hand hoch. Eben diese schmerzt mir nun immer noch vom darauf abgeschossenen Pfefferspray. Mehrfach wurde es auf mich gerichtet. Der letzte Strahl ging mir mitten ins Gesicht. Polizisten verfolgen Gruppen von Umstehenden bis zur nächsten Parallelstraße. Die Polizei hat die Abschiebung erfolgreich durchgezogen. Mit allen Mitteln.