Es läutet. Laute, dumpfe Schläge. Ein Geräusch, das im Großstadtlärm meist übertönt wird, aber nie verschwunden ist. Es huscht noch eine Frau durch die große Messingtür, dann noch ein Mann. Stille.
„Lasst uns beten. Für alle im Mutterschoß getöteten Kinder.“ Die Messe hat begonnen. Es ist eine kleine Gemeinschaft, die sich an diesem Samstagmorgen zusammengefunden hat. Sie tragen warme Jacken, Handschuhe. So richtig gemütlich ist es hier in der Kirche nie – und in den Wintertagen erst recht nicht. Ab und an schaffen es einzelne Sonnenstrahlen, sich ihren Weg durch die wenigen schmalen Fenster zu bahnen und zumindest kurzzeitig dieser großen Halle Wärme einzuverleiben. Sie stehen alle vor den Holzbänken, bis der Priester das Zeichen zum Setzen gibt. Dabei fordert er sie nicht auf, das braucht er auch nicht. Das Ritual der Messe ist altbekannt und der Gemeinschaft die Abfolge der Dinge in Fleisch und Blut übergegangen. Es sind viele ältere Menschen gekommen, auch eine Familie mit zwei Töchtern und einem Sohn ist an diesem Morgen hier. Die Jüngste ist vielleicht drei, vier Jahre alt, dennoch gibt sie keinen einzigen Ton von sich. Sie sitzt brav zwischen ihren Eltern und ihren beiden älteren Geschwistern und verfolgt gespannt das Geschehen.
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Der Verein versucht, in Gebetsvigilien und der Gehsteig-Beratung Frauen an Abtreibungen zu hindern.
In dieser Messe, Vigil genannt, wird gegen Abtreibungen gebetet. Die Vigilien finden einmal im Monat statt, in ganz Deutschland. In Nürnberg beginnt die Prozession mit einem Gebet, kürzer als ein üblicher Gottesdienst. In der 60-minütigen Messe stehen Abtreibungen im Fokus. Dieses Ritual nennen sie „Gebet für das Leben“ und wiederholen es Monat für Monat, um ungeborene Kinder „geistig zu adoptieren“ und sie vor dem Tod zu retten. Die Vigilien werden von dem 1999 gegründeten Verein „Helfer für Gottes Kostbare Kinder Deutschland“ organisiert. Seitdem versucht der Verein in Gebetsvigilien und der Gehsteig-Beratung Frauen an Abtreibungen zu hindern.
Die rund 40 in der Kirche versammelten Personen stehen auf und folgen den Anweisungen. Es wird abwechselnd gebetet und gesungen, zwischendurch setzen sie sich, kurzzeitig knien sie auch. Manche der Älteren schaffen das jedoch nicht mehr und bleiben stehen – das erste und einzige Mal, dass diese Gläubigen nicht einheitlich wirken. Worin sich aber ihre Einheitlichkeit zuspitzt ist ihr Aussehen: es ist niemand dabei, den man bei einer zweiten Begegnung wieder erkennen würde. Es sind Durchschnittsmänner und Durchschnittsfrauen, solche, die einen an der Supermarktkasse vorlassen, weil man nur Müsli und Katzenfutter auf dem Band liegen hat – freundlich, unscheinbar, nicht weiter beachtenswert.
Sie wollen eingreifen, um die Kinder und die „Mörderinnen“, wie sie die selbstbestimmten Frauen nennen, zu „retten“.
Nach dem letzten Gebet zieht der Priester ab. Es kommt zu einer Aufbruchstimmung, aber noch nicht zum Abschied. Vor der Kirche versammeln sich die Abtreibungsgegner*innen, auch der Priester und seine Helfer kommen dazu und treten einen gemeinsamen Fußmarsch von zehn Minuten zu der Praxis einer Gynäkologin an. Die Ärztin soll nach Angaben der Abtreibungsgegner*innen Schwangerschaftsabbrüche vornehmen. Die Praxis der Ärztin befindet sich auf dem Gelände des Nordklinikum in Nürnberg. Vor der Klinik stehen die Männer und Frauen stillschweigend und für sich betend. Die Zeremonie ziert ein großes Gemälde der Muttergottes von Guadalupe – ein Gnadenbild Marias. Die Vigilien in Nürnberg dürfen nur an einem einzigen Samstag im Monat stattfinden. Auch ist es ihnen nicht gestattet, das Klinikgelände zu betreten und dort Frauen direkt anzusprechen. Das konnte per Richterbeschluss veranlasst werden. Das hält sie jedoch nicht davon ab, vor der Klinik ihre Vigilien abzuhalten.
Es ist kalt an diesem Samstag. Die Mahnwache vor dem Klinikumsgelände trägt kaum Früchte, Frauen kommen hier keine vorbei. Trotzdem wiederholen sie dieses Prozedere Monat für Monat, stellen sich bei jeder Witterung mit nichts als ihren Gebeten bewaffnet vor die Klinik. Sie wollen eingreifen, um die Kinder und die „Mörderinnen“, wie sie die selbstbestimmten Frauen nennen, zu „retten“. Diese Abtreibungsgegner*innen lassen nichts unversucht, um anderen Frauen ihre eigenen moralischen Vorstellungen überzustülpen.
Die Kirchenglocken sollen hörbar bleiben.
Der Großstadtlärm frisst sie aber auch jetzt wieder in Sekundenschnelle auf.