Einer der ersten Herbstabende bei einer Kickbox-Fightnight in einer deutschen Großstadt. Tim (Name geändert) geht einen Gang entlang, rechts von ihm liegt die Sporthalle, in der gleich sein erster Kampf stattfinden wird. Etwa 200 Zuschauer haben sich bisher auf der Tribüne verteilt, später am Abend wird es noch rappelvoll. Doch schon jetzt haben sich tätowierte Rocker und Hools eines großen Fußballvereines unter das Publikum gemischt. Gegenüber von einem zur Halle hin offenen Gang, auf dem Tim steht, sitzen circa 50 seiner Freunde auf der Haupttribüne. Sie tragen Trainingsjacken, Bauchtaschen, kurz geschorene Haare. Als sie Tim entdecken schreien und johlen sie. „Rotfront“ brüllt einer von ihnen aus der hinteren Reihe, quittiert wird das aus der Gruppe mit zustimmenden Lachern. Tim guckt kurz rüber und winkt höflich seinen Jungs zu. Sein Blick bleibt konzentriert.
„Typ Kneipenschläger“
Beide Kämpfer kommen mit demselben stampfenden Beat in den Ring, der sagen will: Hier geht es gleich ab. Beide verneigen sich an allen vier Seiten des Rings, dann geht es los. Tims Gegner ist kleiner aber auch breiter als er und legt motiviert los. „Typ Kneipenschläger“, nennt das einer von Tims Leuten. In der zweiten von drei Runden wird Tim an der Augenbraue verletzt und blutet stark. Statt sich davon einschüchtern zu lassen, scheint Tim von dieser Verletzung beflügelt. Mit schnellen Tritten gegen den Körper seines Gegners und sauberen Kombinationen arbeitet er sich näher an seinen Kontrahenten ran. Der wird mit der Zeit passiver, ihm geht merklich die Puste aus. Immer wieder rammt ihm Tim, angefeuert von seinen Freunden, sein Knie in den Oberkörper, immer seltener kann dieser ihm etwas entgegen setzen. Am Ende wird der Kampf 3:0 für Tim gewertet. Er reckt seine Faust in die Höhe und strahlt.
Knapp zwei Wochen nach dem Kampf treffen wir uns in einem türkischen Restaurant. Zum Schutz von Tims Identität bleiben sein Wohnort und einige Details geheim. Fünf Minuten nach der verabredeten Zeit kommt Tim auf einem Mountainbike angeradelt, zur Begrüßung lächelt er. Die Wunde an seiner rechten Augenbraue ist kaum noch zu sehen, die Fäden wurden bereits vor einigen Tagen gezogen. Er trägt seine dunkelblonden kurzen Haare zu einem ordentlichen Seitenscheitel, sein T-Shirt steckt in der Jeans. Im Gespräch lässt Tim ausreden, lacht freundlich und erklärt in ruhigem Ton seine Sicht der Dinge. Wir sind verabredet, um über Gewalt zu sprechen – und darüber, welchen Stellenwert sie innerhalb der radikalen Linken hat.
Nebenbei arbeitet er bei einem Konzern, der „beim Arbeitskampf auf der anderen Seite steht“
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Wenige Themen polarisieren so sehr, wie die Frage, ob Gewalt ein legitimes Mittel zur Bekämpfung seiner Gegner ist. Unter Linken ist das Thema nach dem G20-Gipfel erneuert zur Gesinnungs-Frage geworden. Die Antwort entscheidet in der Diskussion über Freund oder Feind. „Gewalt führt zu Gegengewalt“ mahnen die einen und erinnern an die RAF und den politischen Backlash mit Berufsverboten und anschließendem Rechtsruck. Ihr Konsens: Linke, die Rechten Gewalt antun um eine emanzipatorische Welt zu schützen, das ist der Anfang vom Ende. Dem gegenüber steht der auf den Social-Media-Kanälen von Linken fleißig geteilte Philosoph Karl Popper mit seinem Toleranz-Paradoxon: „Wenn wir nicht bereit sind, eine tolerante Gesellschaftsordnung gegen die Angriffe der Intoleranz zu verteidigen, dann werden die Toleranten vernichtet werden und die Toleranz mit ihnen“, sagte Popper 1945.
Tim ist Mitte 20 und fängt bald seinen Master in VWL an, nebenbei arbeitet er als Werkstudent bei einem Konzern, der, wie er sagt, „beim Arbeitskampf auf der anderen Seite steht“. Nach Feierabend geht er dann in seine andere Welt: das Gym. Anders als viele Linke ist er nicht aus einer Verteidigungshaltung oder zum Selbstschutz zum Kampfsport gekommen, sondern einfach aus Spaß an der Sache. Für ihn ging der Weg von den ersten Anfängen in autonomen Zentren schnell in ein richtiges Gym. „Irgendwann habe ich gedacht, so richtig lernt man da nicht und bin gegangen.“
Sich am Rande von Demos rumtreiben und Nazis klatschen
Obwohl einige der Freunde, die ihn bei seinem ersten Kampf angefeuert haben, zu einer großen antifaschistischen Gruppe seiner Stadt gehören, ist Tim selbst nicht organisiert aktiv. „Auf Demos lungern“, wie er es nennt, und Nazis angreifen, damit kann er sich identifizieren. Einige Male hat er bereits selber mitgemacht. Dennoch ist er kein klassischer Hau-Drauf, sagt er. „Erstmal ist es wichtig festzustellen, dass es strukturelle Gewalt in unserem Leben an jeder Ecke gibt. Das trifft Leute, die verdrängt werden, weil sie ihre Mieten nicht zahlen können, Leute, die abgeschoben werden. Und klar gibt es auch von linker Seite aus Gewalt und da ist auch vieles problematisch. Ich finde das zum Beispiel per se nicht geil, wenn ich sehe, dass einzelne Bullen von nem Pflasterstein getroffen wurden. Ich würde den auch nicht werfen wollen.“
Für Menschen wie Tim heißt Verteidigen trotzdem manchmal auch angreifen. Sich am Rande von Demos rumtreiben und Nazis klatschen, das macht Tim nicht aus Spaß, sondern weil er es für notwendig hält. „Gut ist, wenn sie sich nicht sicher fühlen“, sagt er und meint damit Nazis. „Das kann doch nicht sein, dass die sich in Innenstädten und auf dem Land einrichten, oder auf Demos Hitlergrüße zeigen“. Gewaltlosigkeit ist für ihn etwas, das man sich in diesen unruhigen Zeiten nicht leisten kann. „Es geht darum, dass man sich die Räume nicht nehmen lässt, dass man keinen Schritt zurückweicht. Nazi sein ist ja etwas, das man ablegen kann. Das heißt wir bedrohen Leute, die nicht so sein müssten. Die wiederum bedrohen Menschen aufgrund von Merkmalen, die sie nicht ablegen können“, erklärt er und meint: People of Color, Homosexuelle, Obdachlose. Das macht für ihn den Unterschied.
„Ich komme aus einem bürgerlichen Elternhaus, habe mich nicht viel geprügelt in meinem Leben“
Selbstzweck, findet Tim, dürfe Gewalt nicht sein. Glaubt man ihm, ist Gewalt also weder Mittel zum Zweck, noch ein Adrenalinrausch, den er sucht um ein ansonsten stinknormales Leben aufzuwerten. „Ich komme aus einem bürgerlichen Elternhaus, habe mich nicht viel geprügelt in meinem Leben und brauche das auch nicht. Ich finde es auch nicht geil anderen Leuten oder mir selber weh zu tun, weil das passiert ja auch oft bei Stress. Dafür bin ich zu risikoavers“.
Im Gym hat er oft schon Dinge erlebt, die weit entfernt sind von den homogenen Kreisen, in denen sich viele Großstadtlinke sonst rumtreiben und die auch Tim oft Bauchschmerzen bereiten: Berufssoldaten mit rechter Gesinnung, Mackertum, Homophobie. Dass die Kampfsportszene nicht unproblematisch ist, das hat er kennengelernt. Dennoch lässt er sich nicht davon abhalten, als linker Kampfsportler in ein ganz normales Gym zu gehen.
Er hält es für notwendig, über den Tellerrand zu schauen und sich als Linker nicht von der Gesellschaft abzukapseln. Ihm geht es erstmal darum, diesen Menschen zu begegnen. Als Linker. „Und die Gespräche, die man da führt, sind eben nicht dieselben wie im Politikplenum“. Erst wenn Reden nichts mehr bringt, dann sagt er, müsse man sich andere Dinge überlegen, wie man den Leuten dann begegnet.
Nach seinem ersten gewonnenen Kampf hat er schon neue Pläne. Er ist für einen Kampf in Osteuropa angemeldet: „diesmal bei einer Zeckenveranstaltung“. Tim grinst und schaufelt sich den Rest seines Dönertellers in den Mund.