„Ach was, du bist doch nicht links“, unterbrach mich mein Kommilitone, als wir zwischen den Lehrveranstaltungen zum ersten Mal zusammen Kaffee tranken. Ich war irritiert. Gerade hatten wir uns noch zusammen gegen unseren Dozenten aufgelehnt, der einen Tagesausflug mit uns zur Bundeswehr plante. Fast gleichzeitig meldeten wir uns zu Wort, machten klar, dass dieses Seminar überhaupt keine Überschneidungspunkte mit der Bundeswehr hätte, es in Nordrhein-Westfalen auch keine Anwesenheitspflicht mehr gibt und wir auf keinen Fall an diesem Ausflug teilnehmen würden. Ich hakte also in puncto Nagellack bei meinem mir bis dato fremden Gegenüber nach. Seine Begründung fiel überraschend plump aus: „Schau dich doch an, du trägst ein Minikleid, lange Haare, Nagellack und Lippenstift. Du wirkst allgemein ziemlich weiblich und gepflegt.“
Die Unterhaltung ist jetzt eine ganze Weile her. Kommilitonen haben mir aber auch noch lange danach meine politische Haltung abgesprochen. Vom konservativen CDUler über den Kevin-Kühnert-Jusofan bis hin zum sogenannten Antideutschen oder politisch Gleichgültigen. Für sie alle konnte ich nicht links sein. Weshalb ich ins Nachdenken geriet: Was bedeutet links sein eigentlich?
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Wirft man einen Blick auf den Mainstream, reicht es manchmal schon, dagegen zu sein, dass Reiche noch reicher werden. Vieles geteilt wird. Der Staat sich mehr für benachteiligte Gruppen einsetzen soll, nicht autoritär regiert wird, das Sozialsystem erhalten bleibt und der Kapitalismus nicht jeden Freiraum verschlingt und Menschen in Not Hilfe brauchen. Haltungen, für die man nicht zwangsläufig links sein muss. Vielleicht wünscht man sich auch einfach nur ein etwas besseres Leben für alle. Ein Monopol auf Mitmenschlichkeit haben Linke nämlich auch nicht. So behauptet selbst der Papst, sich ganz Ähnliches zu wünschen. Mit dem Papst teile ich überhaupt nichts, obwohl ich mich links nenne.
Luxus existiert in meinem Leben nicht
Selbst fragwürdige politische Äußerung auf Twitter konnten meine Kommilitonen mir nicht nachweisen. Auch mein Lebensstil besteht weder aus einem unübersehbaren Markenfetisch noch einer Vorliebe für Eigentumswohnungen oder Autos. Als Arbeiter*innenkind fahre ich, wenn auch nicht selbst gewählt, mit dem Rad und lebe in einer WG. Und als freie Journalistin kämpfe ich täglich um jede Zeile und somit um meine Miete.
Aus meinem Steckbrief mache ich kein Geheimnis. Wenn meine Kommilitonen mich kennen würden, wüssten sie all das. Dafür müssten sie sich allerdings für mich interessieren: fragen, wer ich bin, was mich bewegt und was ich in meiner Freizeit unternehme, was mein Lieblingsessen ist, welches Buch ich zuletzt gelesen habe. Dann könnte ich ihnen auch von der Bewegung #Seebrücke erzählen, die Seenotrettung fordert und gegen Abschottung kämpft. Dass meine Mitbewohnerin ein Genie ist, weil ihre vegane Sauce Hollandaise traumhaft ist und sie mir damit jedes Mal ein bisschen Kindheitserinnerung schenkt. Als Veganerin habe ich die tolle Sauce nämlich lange vermisst. Oder mich mal wieder über die Autorin Svenja Flaßpöhler aufregen, die nicht versteht, dass man sexualisierte Gewalt nicht mit ein bisschen Mut und Selbstbewusstsein der Frauen aufbrechen kann, weil es eine männliche Vorherrschaft gibt, von der eben nur Männer profitieren. Kurz: Das Patriarchat.
Nicht selten heißt es in Diskussionen mit den besagten Herren, dass Marx fordern würde, das Schönheitsdiktat der Frau zu beenden. Kurz: Radikal abschminken, nicht mehr schmücken oder stylen und jedes figurbetonte Kleidungsstück verbrennen. Denn nur dann würde ich nicht mehr als der durchschnittliche Mann tun und aufhören, meinen Körper zu stark zur Schau zu stellen.
Für einige Feminist*innen ist Make-Up ein Instrument der Selbstermächtigung
Der Haken an Marx war, dass er die Zusammenhänge von Patriarchat und Kapitalismus nicht verstanden hat. Der Haken an dem Dogma meiner Kommilitonen ist, dass sie bestimmen wollen, wie ich aussehen muss, um links zu sein. Auch hier interessiert sie nicht, warum Frauen wie ich die natürliche Schönheit ablehnen. Für einige Feminist*innen ist Make-Up nämlich ein Instrument der Selbstermächtigung und Ästhetik. Das zeigen starke Frauen wie die feministische Queer-Ikone Beth Ditto, die in einem Interview erklärt, dass auch Frauen, die Wimperntusche, Puder und schrille Freizügigkeit mögen, wichtige und ernste Sachen im Leben machen können. In der Riot-Grrrl-Bewegung wird weibliche Kleidung, die den Körper betont, in einen neuen Kontext gestellt, so dass Kleider und rasierte Beine nicht mehr als feindseliges Accessoire gefürchtet werden. Die Suffragetten demonstrierten Anfang des 20 Jahrhunderts mit roten Lippen in den Straßen von New York für das Frauenwahlrecht. Der Lippenstift wurde so zur Kampfansage.
Abgesehen davon ist Styling und Make-Up schon längst keine Frauensache mehr. Das beweisen Beauty-Blogger wie Oskar aka “Ossi Glossy”, der seit seinem zwölften Lebensjahr zu den Schminkprofis auf Youtube zählt. Schrille Outfits, Nagellack und Eyeliner begegnen uns inzwischen im Alltag auch an Männern.
Links zu sein bedeutet also vielmehr als sich abzuschminken. Schon im Geschichtsunterricht lernte ich, dass alle linken Bewegungen und Regierungen sich auf den Marxismus bezogen haben. Was keine Meinung war, über die sie streiten konnten. Eher eine Wissenschaft oder Wahrheit, die immer das Ziel verfolgt, den Kapitalismus zu bekämpfen, indem sie die Knechtschaft der Lohnarbeitenden überwindet. Soft ausgedrückt, das Kapital abschafft.
Es ist absurd zu denken, dass der Kapitalismus plötzlich verschwindet, wenn ich künftig schminkfrei lebe
Die Vorstellung einer wilden Arbeiter*innenklasse, die eine Revolution anzettelt, ist ziemlich absurd. Da man sich schon fragen muss, wer die Arbeiter*innen sind. So befinden sich Fahrradkurrier*innen, Postbot*innen und selbst Dozierende mittlerweile in prekären Beschäftigungsverhältnissen. Noch absurder ist allerdings die Annahme, dass der Kapitalismus plötzlich verschwindet, wenn ich künftig schminkfrei lebe.
Mittlerweile muss man nicht mal mehr intellektuell sein und jeden gewagten Lebensschritt theoretisch begründen können. Zum Glück reichen uns schon gute Geschichten, um die Verhältnisse, in denen wir leben, erkennen und hinterfragen zu können. Wie zum Beispiel die über meinen ziemlich ignoranten Kommilitonen. Unser anschließendes stundenlangen Gespräch, in dem ich ihm erklärt habe, dass mein Aussehen überhaupt nichts mit meiner politischen Einstellung, meinem Wissen oder meinen Fähigkeiten zu tun hat. Dass wirklich nur ein optischer Widerspruch vorliegen würde, wenn er mich mit einem Frei.Wild-Shirt erwischt. Und vor allem: Dass er aufhören muss, seine mächtigere Position auszuleben, um in einer gerechteren Gesellschaft leben zu wollen. Dabei fallen mir eine Hand voll Dinge ein, die deutlich spannender wären: Meine Lieblingsserie, ein Besuch bei meiner besten Freundin, baden, Wein, schlafen. Aber vielleicht ist genau das ein Symptom des Linksseins: Verantwortung zu übernehmen und unbezahlte Bildungsarbeit zu leisten, um andere geschminkte, frisierte und freizügig gekleidete Frauen künftig vor diesem Bullshit zu bewahren.