Hups, wie konnte das denn passieren? Ein rechtsradikaler Mord? Bei uns? Mitten in Deutschland? Nach dem Anschlag auf den Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke durch einen mutmaßlichen Neonazi scheint es, als sei ein Ufo in Deutschland gelandet – das Ufo des Rechtsterrorismus. Bedrohlich, mysteriös, von einem fernen Planeten. Wirtschaftsminister Peter Altmaier schreibt auf Twitter: „Das haben wir seit den NSU-Morden nicht mehr für möglich gehalten.“ Verschiedene Medien schwingen das Hufeisen und sprechen von einer „braunen RAF“. Konservative sind schockiert, dass „so etwas“ in Deutschland passieren konnte. Ganz ehrlich: Wo lebt ihr eigentlich?
Rechter Terror ist Alltag in Deutschland: Seit Jahren schmieden Nazis Umsturzpläne, horten Waffen, legen Todesliste an, hetzen im Netz, ermorden Menschen. Doch oft heißt es von offizieller Seite, dass eine akute Terrorgefahr nicht bestehe. Dass rechte Netzwerke lediglich „verbalradikal“ seien. Dass Attentäter Psychopathen, Waffennarren oder Parkbanktrinker seien. Die Bierdose mal gegen Kalaschnikow tauschen, wer kennt das nicht?
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Nichts aus dem NSU gelernt
Bereits in den 1970er Jahren planten Terrornetzwerke wie die Wehrsportgruppe Hoffmann Anschläge auf Linke und Migrant*innen. Seit den 1990 Jahren wurden mehr als 200 Menschen durch Nazis ermordet. Spätestens seit der Aufdeckung des NSU, der zwischen 2000 und 2007 neun Migranten und eine Polizistin ermordete, 43 Mordversuche beging und drei Sprengstoffanschläge und 15 Raubüberfälle durchführte, sollte das Thema des Rechtsterrorismus in der deutschen Gesellschaft angekommen sein. Eigentlich. Doch Terror wird weiterhin oft nur so genannt, wenn der Täter Mohammed heißt.
Dabei warnen Antifaschist*innen seit langer Zeit vor den Gefahren durch die rechte Szene. Manche der ehrenamtlich arbeitenden Redaktions- und Recherchekollektive leisten einen größeren Beitrag zur Aufklärung von rechten Straftaten als Behörden mit Millionenbudgets.
Von wegen Einzeltäter
Reflexartig ertönen bei rechten Anschlägen die Stimmen, dass es sich um Einzeltäter gehandelt haben muss. Doch solche Taten geschehen nicht ohne einen Kontext. Es gibt einen direkten Zusammenhang zwischen verbalen Enthemmungen und konkreten Taten. Nicht nur in Internetforen, sondern auch im Parlament (ja, liebe AfD, du bist gemeint) wird eine Ideologie gefüttert, die Gewalt befördert. Es ist keine Überraschung, dass der mutmaßliche Lübcke-Mörder Spender der AfD gewesen sein soll. Wieder einmal zeigt sich: Gewaltbereite Nazis fühlen sich durch die Halbnazis im Bundestag politisch und parlamentarisch vertreten.
Doch auch bürgerliche Kräfte haben Mitschuld an einem Klima, das Rechte zumindest ermutigt, Gewalt auszuführen. Etwa wenn der ehemalige Bundespräsident „Toleranz in Richtung rechts“ fordert oder sich Faschist*innen in Talkshows die Klinke geben. Die Devise scheint oft zu sein: Kuscheln statt klare Kante. Die Verstrickungen staatlicher Behörden in die rechten Netzwerke werden an dieser Stelle nicht ausgeführt.
Es ist klar: Neonazis haben gefestigte Strukturen und seit dem Sommer 2015 immer mehr Zulauf. Aus rechten Kameraden werden mordende Terroristen. Die Folgen sind oft tödlich. Eine unvollständige Chronik des rechten Terrors in Deutschland:
September 2015
Mitglieder der „Gruppe Freital“ werden verhaftet. Sie sollen Sprengstoffanschläge auf Asylunterkünfte im sächsischen Freital und in der Umgebung durchgeführt haben.
Oktober 2015
Die parteilose Oberbürgermeisterkandidatin Henriette Reker und vier weitere Personen werden an einem CDU-Informationsstand in Köln Opfer eines Messerattentats und dabei schwer verletzt. Der Täter war in der neonazistischen Szene aktiv und beging die Tat aus „Unzufriedenheit mit der Asylpolitik“ Rekers.
Juli 2016
Der Schüler David Sonboly erschießt am Olympia-Einkaufszentrum (OEZ) in München neun Menschen und danach sich selbst. Alle Opfer hatten Migrationshintergrund. Sonboly hatte ein rassistisches Weltbild und bezog sich auf die Taten des Massenmörders Anders Breivik.
September 2016
Kurz vor den Einheitsfeierlichkeiten gibt es Rohrbombenanschläge auf die Fatih Camii Moschee und auf das Kongresszentrum in Dresden. Der Tatverdächtige Nino K. trat bei einer Kundgebung der rassistischen Pediga auf.
seit 2016
In Berliner Stadtteil Neukölln verüben mutmaßliche Neonazis Brandanschläge auf linke Politiker*innen, Aktivist*innen und Szenelokale. Obwohl Ermittler*innen die Täter seit Monaten ausgespäht hatten, sollen sie ein Opfer, den LINKEN-Politiker Ferat Kocak, nicht gewarnt haben.
Januar 2017
Bundeswehroffizier Franco A. fliegt auf. A. hatte sich beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) als Geflüchteter aus Syrien ausgegeben. Es wird vermutet, dass A. Anschläge geplant hatte und den Verdacht auf Geflüchtete lenken wollte.
Dezember 2017
Der rechte Straftäter Stephan K., der jahrelang in der Naziszene aktiv war, lässt auf dem Bahnsteig der Hamburger S-Bahn-Station Veddel eine selbstgebaute Nagelbombe explodieren. Mehrere Umstehende werden verletzt.
Oktober 2018
Sieben Männer der „Revolution Chemnitz“ werden verhaftet. Sie sollen rassistische Morde geplant haben. Alle Verdächtigten stammen aus der neonazistischen Hooligan-Szene in Sachsen.
Silvester 2018/19
In Bottrop und Essen rast ein Mann in der Silvesternacht mit dem Auto in Menschengruppen und verletzt mindestens acht Personen. Die Opfer kommen aus Syrien und Afghanistan. Es wird von einem rassistischen Tatmotiv ausgegangen.
Januar/Februar 2019
Die Frankfurter Anwältin Seda Başay-Yıldız, die mehrere Angehörige von Opfern des NSU-Terrors vertreten hatte, erhält Drohbriefe, die mit „NSU 2.0“ unterschrieben sind. Die persönliche Daten der Anwältin, die die Täter für die Drohungen nutzten, stammen vermutlich aus einem Polizeicomputer.
Juni 2019
Der CDU-Politiker Walter Lübcke wird in seinem Wohnhaus ermordet. Lübcke positionierte sich gegen rechte Hetzte und wurde zur Zielscheibe von rechten Kräften. Der Täter Stephan E. soll Kontakte zur Nazi-Terrorgruppe Combat 18 haben und saß wegen rassistischen Anschlägen im Gefängnis.