“Ich habe keine Zeit oder Bock oder Energie, mich mit deiner Freundin Natalia zu beschäftigen!“, sagt meine deutsche Freundin Liese über unsere gemeinsame russische Freundin. Ich bin bei Liese zu Besuch und jetzt lästert sie über unsere Freundin Natalia. Die beiden haben sich auf meiner Facebook wall gestritten, und jetzt gibt es ordentliches Beef. Ich glaube, ich bin auf Natalias Seite. „When in doubt – blame a German“, das ist das Motto, nach dem ich mein Leben lebe.
„Das Gute an Deutschland ist doch, dass es einen Sozialstaat gibt“, sagt Liese, und schnieft nachdenklich und selbstsicher. „Niemand muss verhungern in diesem Land. Und Frauen in gewalttätigen Beziehungen können sich an das Jobcenter wenden. Ich habe keine Zeit für solche Frauen wie Natalia, die sich nur als Opfer sehen, und sich gar nicht befreien wollen aus ihrer Situation.“
Wie viele Deutsche, die den Sozialstaat Deutschland loben, hat Liese nie versucht, von Hartz IV zu leben – and it shows. Die Wahrheit ist, dass das Geld, von dem man seine Kinder ernähren soll, nicht genug ist, um gesund, sättigend und lecker zu essen. Es gibt nicht genug Geld für eine kaputte Waschmaschine, Musikunterricht oder um im Winter einen Schlitten zu kaufen. Das Geld reicht nicht, und ich finde es beschämend, dass das in so einem reichen Land so vielen Menschen egal ist.
Die Wahrheit ist auch: so leicht, wie Menschen wie Liese es sich denken, ist es nicht, von einem (gewalttätigen) Mann weg zu kommen. Natalias Mann ist nicht so gewalttätig. Er schläft viel, besonders in der Kurzarbeit, schreit total rum, wenn die Kinder laut sind, macht nichts in der Wohnung, und beleidigt sie sexistisch, wenn ihm etwas nicht passt. Aber geschlagen hat er „nur“ ein-zweimal, und sie will deswegen nicht ins Frauenhaus mit ihren zwei Töchtern. Sie glaubt, dass das Erlebnis im Frauenhaus für ihre Töchter traumatisierender sein wird, als ein paar Monate beim Vater auszuhalten.
Man kann sich darüber streiten, ob Natalia Recht hat oder nicht – ich würde an ihrer Stelle ins Frauenhaus, denke ich – aber das ist ihre Entscheidung. Und jetzt sollte sie wegkommen können von diesem Mann, der „nur ein bisschen“ gewalttätig ist. „Sie helfen mir nicht beim Jobcenter“, sagt Natalia zu mir. Ich spaziere mit ihr durch die Hasenheide, wir lästern über Liese, und überhaupt über die Situation für Frauen und Kinder in Deutschland. Natalia hat jetzt die deutsche Staatsangehörigkeit, aber sie hat hier kaum gearbeitet, bevor die Kinder kamen.
„Warum denkt Liese, dass es so leicht ist hierzulande? Sie sagen mir beim Jobcenter, dass wir gar nicht getrennt sind, bis wir getrennt sind. Aber wie kann ich mich trennen, wenn ich kein Hartz IV bekomme?“
„Vielleicht solltest du doch ins Frauenhaus, oder in eine Zufluchtswohnung?“ schlage ich vor. „Ich will einfach eine normale Wohnung“, sagt sie. „Er ist kein Frauenschläger – er ist kein Monster. Du kennst ihn auch, Jacinta! So schlimm ist er gar nicht. Ich will nicht ins Frauenhaus – ich will nur weg.“
„Er muss für dich einen Untermietvertrag schreiben. Mit einem Untermietvertrag ist es leichter, das Jobcenter zu überreden, dass ihr getrennt seid“, sage ich. „Das macht er nie“, entgegnet sie. Er sagt, er will nicht, dass wir weggehen.“
„Es ist einfach scheiße“, sage ich.
„Ich weiß nicht, was ich tun soll. Ich fühle mich so gefangen. Ich fühle mich, als ob ich im Gefängnis eingesperrt bin – nur, mein ganzes Leben ist dieses Gefängnis. Und alle sagen mir, ich muss nur raus, aber niemand sagt mir wie.“
Ich war einmal in einer ziemlich ähnlichen Situation wie Natalia. Glücklicherweise hat mein Ex-Partner mir dann doch einen Untermietvertrag unterschrieben. Aber ich finde es echt strange, dass in diesem Land, wo man so stolz auf den Sozialstaat, auf die Gleichberechtigung ist, es fast unmöglich für Frauen ist, sich zu trennen – wenn sie kein oder kaum Geld haben. Und wenn es Kleinkinder gibt, haben die meisten Frauen wenig Geld.
Als ich als freiberufliche, relativ erfolgreiche aber ziemlich arme Künstlerin mich von einem wohlhabenden festangestellten Mann trennen wollte, war das verdammt schwer. Freundinnen wie Liese hatten mir ständig erzählt, wie leicht alles in Deutschland sei, und wie eine Märchenfee wage in Richtung Jobcenter gezeigt und wage gesagt, dass das Jobcenter alles klären würde.
Ich war gefangen und mein Leben war das Gefängnis
Beim Jobcenter war es aber ein bisschen anders. Sie waren wie bei Natalia zuerst skeptisch, dass ich mich wirklich trennen will. Aber auch nachdem sie es glaubten, dauerte es länger, bis mein Bescheid da war. Und dann war es sehr schwierig, eine Wohnung zu finden. Wegen meines großen Sohns war ein Aufenthalt im Frauenhaus nicht mehr möglich. Und ich fühlte mich wie Natalia: ich war gefangen, und mein Leben war das Gefängnis.
Ich habe sehr viel Hilfe bekommen. Sozialamt, Sozialberatung, Frauenberatung, Rechtsanwältin – alle haben mit mir telefoniert. Und manchmal, sogar, im entspannten Sommer 2020, bin ich live vorbei gegangen, damit man mir hilft. „Ihr Fall ist sehr speziell“ sagten alle. Weil ich freiberuflich war, weil mein Ex viel Geld verdiente, weil ich nicht nichts verdiente, aber nicht genug, um eine Wohnung für drei Personen zu bezahlen. Am Telefon oder im Beratungsgespräch habe ich mir immer gesagt: mein Fall sei sehr ungewöhnlich. Niemals zuvor hat in Deutschland eine Freiberuflerin einen Mann mit Geld verlassen wollen. Niemals zuvor hat in Deutschland eine Frau wenig, aber nicht gar kein Geld.
Auf dem Weg nach Hause von den Beratungsgesprächen redete ich mit den Eltern, und wenn ich sage Eltern, meine ich eigentlich Mamas, auf dem Spielplatz. Und wisst ihr was? Fast alle Mamas auf dem Spielplatz verdienen weniger als ihre Partner, oder sind in Teilzeitarbeit, oder arbeiten freiberuflich. So ungewöhnlich bin ich nicht gewesen! Aber eines ist klar: mein Fall ist nicht vorgesehen in diesem großzügigen deutschen Sozialstaat.
Es ist einfach nicht vorgesehen, dass Frauen ihre Männer verlassen. Nicht, wenn sie gewalttätige Männer verlassen wollen. Aber auch nicht, wenn sie einfach faule Arschlöcher verlassen wollen, die nie den Abwasch machen.
Es geht nicht um Deutschland-bashing
Mir wurde oft vorgeworfen, Deutschland zu bashen. Aber ich habe ganz konkrete Vorschläge, wie wir aus dieser Situation herauskommen: Ich bin jetzt eine Akademikerin, eine Selbstständige, die beim Jobcenter ist. Ehrlich gesagt finde ich nicht, dass Akademiker*innen und Selbständige ihre eigene Abteilung im Jobcenter brauchen. Ist nett diese Idee mit der Sonderhilfe und so, aber ist unnötig. Es ist eigentlich das Gleiche, wenn du arbeitslos bist, Bachelorabschluss hast und dich als Übersetzerin bewirbst, als wenn du arbeitslos bist, eine Ausbildung hast und dich als Kellnerin bewirbst. Wer eine eigene Abteilung beim Jobcenter braucht: Frauen und Kinder, die kaum oder wenig Geld haben, und einen Mann verlassen wollen. Statt Hartz-IV sollten sie echte Hilfe bekommen.
Die Menschen, die in dieser Abteilung arbeiten, sollen dafür geschult werden, Frauen zu helfen, unabhängig zu werden. Diese vagen Fantasien von Liese darüber, wie toll das Jobcenter ist, sollen Realität werden: ich bin dafür! Liese, liest du mit? Gregor Gysi, bist du da? Wir können, sollen UND müssen das besser machen in diesem oh so sozialen Sozialstaat Deutschland!