Ich ziehe meine Fußballschuhe nach dem Training aus und greife nach meinen Sneakern, als mein Mitspieler sagt: „Gehst du nicht erst duschen? Nie willst du in die Dusche, was ist los?“ Ich sage erst nichts, mache mich fertig und ziehe meine Jacke an: „Ich wohne in der Nähe, will nur nicht hier duschen.“ Die Antwort genügt ihm nicht: „Alle Muslime, die ich kenne, wollen sich irgendwie nicht ausziehen und mit uns duschen. Verstehe ich nicht.“ Er dreht ab und stellt sich mit den anderen unters Wasser. Sein Unverständnis kann ich nachvollziehen. Nicht darüber, dass ich in der Umkleidekabine nicht mit meinen Mitspielern duschen möchte, sondern dass ich ständig darauf angesprochen werde, wieso ich nicht dusche, und falls doch, meine Unterhose dabei anlasse.
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Das ist kein neues Phänomen, das passiert schon seit meiner Kindheit. Aber war das bei anderen auch so? Und was hat das mit ihrer Männlichkeit zu tun? Ich habe ein paar meiner als muslimisch gelesenen (Männer)- Freunde gefragt, um herauszufinden, ob das bei ihnen auch so ist. Es wurde schnell klar: Auch sie ziehen sich nicht gerne vor anderen aus. Es gibt Modetrends, die immer wieder auftauchen, obwohl deren Niedergang schon längst besiegelt war. Keiner will, dass sie zurückkommen, weil sie nie wirklich cool waren. Der „AirMax“ von Nike zum Beispiel. In der Politik gewinnt diesen Preis die Debatte um die „Leitkultur“. Genauso wie Schuhmodelle aus der Versenkung kommen, gibt es mit Friedrich Merz nun einen Politiker, der nach zehn Jahren politischer Abstinenz für den CDU-Vorsitz kandidiert, obwohl ihn keiner gefragt hat. Er war es, der den Begriff „Leitkultur“ im Jahr 2000 in die öffentlichen Debatte trug und damit eine Diskussion befeuerte, die Grenzen in der Gesellschaft zog und Menschen mit Einwanderungsgeschichte verpflichtete, etwas Nebulösem Folge zu leisten.
Muslimische Männer fordert er dazu auf, nackt zu duschen, weil sonst eine Gesellschaft entstehe, die er nicht mag
Besonders muslimische Einwanderer*innen und Geflüchtete hätten einen eigenen Integrationsbeitrag zu leisten, indem sie sich deutschen, kulturellen Wertvorstellungen annäherten und die Leitkultur „respektieren“. Jens Spahn, heutiger Gesundheitsminister, setzte 2016 die Debatte fort und sprach in einem WELT-Interview davon, dass es in seinem Fitnessstudio Schilder gebe, die das Duschen in Badehose ausdrücklich erlauben, weil „arabische Muskelmachos mit ihrer Unterhose drunter {standen}, weil sie sich nackt genierten.“ Damit würde eine gesellschaftliche Veränderung sichtbar sein, die er nicht will, weil Deutschland wieder „verklemmt“ sein würde. Muslimische Männer fordert er damit dazu auf, nackt zu duschen, weil sonst eine Gesellschaft entstehe, die er nicht mag.
Eltern habe ich auch nie bewusst und freiwillig nackt gesehen (oder sehen wollen)
Bevor ich in Fitnessstudios ging, kam ich in meiner Jugend oft in die Situation, mich im Schwimmbad oder beim Fussball in der Dusche ausziehen zu müssen. Während sich meine nicht-muslimischen Freunde ohne Probleme vor unbekannten Menschen nackt duschten, hat sich bei mir dieser Impuls das zu tun, ja diese Selbstverständlichkeit, nie entwickelt. Meine Eltern habe ich auch nie bewusst und freiwillig nackt gesehen (oder sehen wollen). Nacktheit wurde mir in der Familie schlicht und einfach nicht vorgelebt, wie bei meinen deutschen Freunden. Der Großteil von meinen als muslimische Männer markierten Freunden sagt, dass sie in öffentlichen Duschen ihre Unterhose auch nicht ausziehen wollen. Haroun, ein guter Freund, meint: „Ich bin damit großgeworden, dass nackte Körper und Genitalien was Intimes sind und nichts, was man in einer öffentlichen Dusche anderen Menschen ‒ ob man sie kennt oder nicht ‒ präsentiert. Auch wenn ich nichts gegen Nacktheit habe, habe ich den Gedanken internalisiert.“ Ein anderer Kumpel antwortet auf die Frage, ob es ihn nervt, dass zwar (deutsche) Freunde oft fragen, aber es ihm mittlerweile egal sei.
Wenn ich mich nicht ausziehen will, dann ist das mein Grundrecht
Wenn all diesen Männern nun von Spahn Verklemmtheit vorgeworfen wird, ist das nicht nur extrem unnötig, sondern macht eine Sache deutlich: Die Notwendigkeit sich in öffentlichen Duschen auszuziehen hat nichts mit Verklemmtheit zu tun, sondern ist das Ergebnis unserer eigenen Sozialisation und macht die Komplexität muslimischer Männlichkeitserwartungen in der deutschen Gesellschaft bemerkbar. Entweder werden als muslimisch markierte Männer als „gefährlich“ oder hypermaskulin, prollig-auftretend oder „unzivilisiert“ wahrgenommen oder eben verklemmt, weil sie ihre Unterhose in der Dusche nicht ausziehen. Das zeigt vor allem eines: Die Erwartungen an sie sind kaum zu erfüllen und überladen. Sie werden dadurch zum ständigen Objekt gesellschaftlicher Debatten gemacht. Wenn ich mich nicht ausziehen will, dann ist das mein Grundrecht, das Recht auf Selbstbestimmung und auf die Unantastbarkeit meiner Menschenwürde. Das steht an oberster Stelle im Grundgesetz, auf dem Leitkulturpolitiker gerne mit beiden Beinen stolz stehen.
Wenn einflussreiche Personen wie Jens Spahn sich auf den Begriff der Leitkultur beziehen und aktuell Philipp Amthor von Integration als einer Anpassung an von einer „Leitkultur geprägte Gesellschaft“ spricht, wird der Gesellschaft kein sinnvoller Leitfaden gegeben, sondern Demokratie missachtet. Friedrich Merz als Favorit um den CDU-Vorsitz muss diese Leitkultur-Debatte endlich beenden, wenn er als ernstzunehmender Demokrat ins Rennen gehen will. Das „verklemmte“ Schamgefühl von muslimischen Männern und die bewusste Verweigerung, Leitkultur durch das Ausziehen der Unterhose zu befolgen oder sich davon unter der Druck setzen zu lassen, ist die eigentlich gelebte Demokratie, ganz im Gegensatz zu der, die nur für bestimmte Gruppen gilt.
Ihr und eure Männlichkeit gehört hier nicht hin.
Die Sozialwissenschaftlerin Naika Foroutan spricht dabei von einem „Demokratischen Paradoxon“. Nach dem Grundgesetz befürworte jede*r theoretisch die Gleichheit aller Bürger*innen des Landes. In der Praxis wird sie aber einzelnen verweigert. Das heißt: Wenn als muslimische gelesene Männer das Ausziehen in der öffentlichen Dusche verweigern und sich auch nicht reinreden lassen wollen, wird es von der weißen Mehrheitsgesellschaft als Bedrohung für die gesellschaftliche Ordnung wahrgenommen, obwohl es ihr Recht ist. Sobald die (weiße) Mehrheitsgesellschaft etwas einfordert und dem nicht Folge geleistet wird, heißt es schnell, dass sei fehlender Wille zur „Integration“ und Respekt für die freiheitlich-demokratische Grundordnung. Wenn (weiße) deutsche Männer von Muslim*innen aufgefordert werden würden, in der öffentlichen Dusche eine Unterhose anzubehalten, gäbe es eine Riesendebatte über die Überfremdung und Islamisierung Deutschlands, man würde medial gegen sie wettern und ihnen wieder einmal deutlich machen: Ihr und eure Männlichkeit gehört hier nicht hin.
Die Aufforderung zum Ausziehen für die Leitkultur demaskiert aber im Grunde nur diejenigen, die diese Forderung aussprechen. Denn Menschenrechte sind nicht verhandelbar und vor allem nicht selektiv nur für weiße Menschen gültig. Deshalb ist die Verweigerung ein demokratischer Akt und das Schamgefühl eine Entscheidung für die Wahrnehmung eigener Rechte, und genau deswegen: Gelebte Demokratie.