Ich wollte eigentlich kurz vor den Landtagswahlen im Osten nichts schreiben. Dieser Termin ist nur ein Ergebnis von Ereignissen, die aktuell mein volles Interesse binden: der Oktober und November 1989. Zentral ist hierbei für mich die Frage: Wie können die Forderungen nach sozialen Rechten für alle, Mitbestimmung und Umweltschutz, die viele Bürgerrechtler*innen in jenem Herbst artikulierten, heute gegen die offizielle Erinnerungskultur und gegen die Vereinnahmung der Rechten in Stellung gebracht werden kann?
Kurz vor den Wahlen gibt es nicht viel zu sagen. Es gilt zu handeln. Etwa wie es viele Vereine, Akteure und Initiativen im Osten tun. Oder auch überregionale Zusammenschlüsse, wie das Künstlerkollektiv Die Vielen, das Unteilbar-Bündnis oder die Martkplatztour der Solidarität #WannWennNichtJetzt. Ansonsten wird gelabert, gemeckert, geschrieben. Auch wichtig im Land der Dichter und Denker.
Was weiterhin fehlt: konsequentes Handeln von politischen Apparaten, die versuchen, der Dramatik der Situation gerecht zu werden. Morgens um 10 Uhr in Deutschland – ob Ost oder West – herrscht eine Stimmung, die wie eine beklemmende, künstliche Ruhe vor einem dunklen Sturm wirkt. In ein paar Tagen wird das Geschrei groß sein. Verbände, Parteien, und vielleicht auch die eine oder andere politische Institution werden nach Demokratieförderung im Osten rufen. Wir werden vielleicht auch Rufe von Bürgerrechtler*innen hören, die hoffentlich laut Stimme gegen die Vereinnahmung der eigenen Revolutionsgeschichte durch – wohl bemerkt – westdeutsche AfD-Eliten erheben. Es ist zu hoffen, dass alle Kräfte, die eine offene Welt für alle ersehnen, endlich die Handbremse lösen werden und sich mit Mut und der unbedingt erforderlichen Fehlerfreundlichkeit gegenüber den eigenen Aktivitäten in das analoge und digitale Handgemenge werfen.
Westdeutsche Dominanz in der Geschichtsschreibung anprangern
Um nicht mit einzustimmen in den ostdeutschen Meckerkanon, versuche ich es konstruktiv: Gut ist, dass das Interesse für die ostdeutsche „Mentalität“ in der westdeutschen Zivilgesellschaft steigt. Auch gut ist, dass Ostler*innen nach 30 Jahren endlich selbstbewusster die westdeutsche Dominanz in der Geschichtsschreibung und der Eliten im Osten anprangern. Noch immer sind 75 bis 80 Prozent aller Führungspositionen in Wirtschaft, Wissenschaft, Politik und Verwaltung im Osten von Westler*innen besetzt. Anerkennung, Würde und Respekt – wie beispielsweise auf den Wahlplakaten der Partei Die Linke gefordert werden – sind nun auf der politischen Agenda. Doch sind sie bisher oft hohle Luft. Diesen Zielsetzungen nach Würdigung ostdeutscher Lebenserfahrung fehlen die Ideen und Stolperversuche in der Praxis.
Die Bundespolitik debattiert über das Auslaufen des Solidaritätszuschlags und Rentenanpassungen für Ostler*innen. Letztere waren längst überfällig und sind besonders unserer Eltern- und Großelterngeneration nur zu wünschen. Doch wir Zone- und Wendekinder sehen: Das reicht nicht! Wenn man zwei Wochen vor politisch brisanten Wahlen im Osten auf keine bessere Idee kommt, als in der alten BRD-Hauptstadt Bonn dem Altkanzler Kohl ein Mahnmal zu setzen, zeugt das vor allem von Ignoranz und politischer Dummheit. Denn Kohl war maßgeblich für die unsoziale Abwicklung und den Anschluss der DDR an die BRD verantwortlich. Der (ost)deutsche Schaden sitzt viel tiefer. Deswegen braucht es die Bereitschaft und kollektive Strategien, sich durch die Scheiße zu graben und die Hände schmutzig zu machen.
Trauerarbeit leisten
Alle politischen Kräfte, die sich nun Forderungen nach Beibehaltung des Solidaritätszuschlags oder Rentenanpassungen auf ihre Wahlmanifeste schreiben, versuchen eine Abkürzung zu gehen. Um Würde und Respekt für den Osten zu erzielen, braucht es politische Formen, die eine Aufarbeitung des Scheiterns im solidarischen Modus ermöglicht. Das bedeutet auch sich der schwierigen Trauerarbeit zu stellen. Diese muss sowohl Raum für die Trauer der Westler*innen lassen, beispielsweise um das alte Westberlin. Aber sie muss auch Trauer der Ostler*innen zulassen, um das verloren gegangene Land, altbekannte sozialkulturelle Strukturen, den Verlust einer basisdemokratischen Aufbruchserfahrung von 1989 und das Scheitern des antifaschistische Projekt nach dem Zweiten Weltkrieg. Übel ist das! Und anstrengend! Und Care-Work! Dass es ein Leck im Osten gibt, hat auch mit dem Mangel an jungen Frauen zwischen 25 und 40 Jahren zu tun. Viele ostdeutsche Frauen zogen weg und fehlen heute überall. Sie fehlen nicht zuletzt in den Männerträumen nach heteronormativen Familienmatrizen im Osten. Es braucht öffentliche Foren sozial-politischer Aufarbeitung für die Umbruchs- und Scheitererfahrungen einer großen Transformation und Krise vor 30 Jahren.
Kann man ein ganzes ehemaliges, oder besser zwei ehemalige Länder therapieren? Nein. Hätte man aber mal machen sollen. Reboot 1968 sozusagen. Psycho-soziale Verdrängungen schlechter Gefühle sind eben kein ostdeutsches Laster. Eher lässt sich eine interessante Gemeinsamkeit zwischen nicht aufgearbeiteten biografischen Geschichten in der alten BRD und der DDR ausmachen. Und so steht heute eine Generation vor dem Dilemma und in der Verantwortung die Kosten einer verfehlten westdeutschen Politik tragen zu müssen. Diese veränderte gravierend unsere Städte und Sozialgefüge – manchmal auch mit dem Bulldozer. Was wir heute machen können: die Geschichte der kurzen Revolution im Osten erzählen, die Utopien, das Chaos, die Selbstverwaltung einer postsozialistischen jungen und mittelalten Generation – ohne die rassistischen Strukturen in der DDR und der Nachwendezeit zu unterschlagen.
Den Ostler*innen auch mal zuhören
Um die fehlende Aufmerksamkeit für diese Lebens- und Krisenerfahrung (auch in Kontexten sozialer Bewegungen) zu bearbeiten, ist es nun an der Zeit, dass den Ostler*innen mal zugehört wird. Gibt es nicht etwas zu lernen von basisdemokratischen Organisierungsversuchen, den Streiks, den selbstverwalteten Schulen, vom Theater- und Kulturbetrieb jener Jahre? Um die empathischen Momente jener Zeit, das Interesse an den Nachbar*innen und den Menschen im öffentlichen Raum bei den Ostler*innen wieder hervorzulocken, müssen wir öffentliche Dialogräume schaffen. Es könnte lohnen, an die Runden Tische von damals anzuschließen. Das waren Versuche, verschiedene zivilgesellschaftliche Akteure zusammenzubringen, um Vergesellschaftung neu zu denken: nämlich von unten.
Oder was ist aus jenen Forderungen der Bürgerrechtler*innen nach einer Verfassungsreform gemäß Artikel 146 des Grundgesetzes geworden? Oder dem Vorschlag des SDP-Mitgründers und späteren Bundestagsabgeordneten Konrad Elmer-Herzig nach Ergänzung eines Artikels auf das Grundrecht nach Menschlichkeit, der im letzten Moment von der CDU gekippt wurde?
Die Deutschen aus ihrer emotionalen Verkrustung holen
Wir müssen das ostdeutsche Schweigen brechen. Wir brauchen wieder öffentliche Foren wie einst im Herbst 1989, wo sich Menschen zuhören und debattieren können. Wenn schon keine Therapiemöglichkeiten für alle Deutschen, um sie endlich aus ihren emotionalen Verkrustungen heraus zu winden, dann zumindest hartnäckige Kultur- und Weiterbildungsmöglichkeiten, in denen sich die soziale Frage von links im Osten und gemeinsam mit solidarischen Westler*innen planen, entwickeln und umsetzen lassen wird. Das wird bedeuten Räume zu eröffnen, in denen schwierige Gefühle wie Angst, Traurigkeit, Ekel, Einsamkeit, Unsicherheit, Schuld und Scham besprochen und politisch kanalisiert werden. Die AfD nutzt diese soziale Unsicherheit und bietet Hass als Lösung. Eine linke Antwort muss sein, sich der Wut als Emotion zu stellen und sich nicht länger davor zu scheuen, diese von links zu nutzen. Wie will man sonst einen Zugang zu neuen Klassenpolitiken entwickeln?
Es ist einfacher in einer neoliberalen, kalten Gesellschaft mit Hass durch die Welt zu gehen oder ihn in das Internet zu tippen, als der Bäckerin oder unbekannten Person auf der Straße mit einem Lächeln zu begegnen. Worauf uns der Osten gerade stößt, ist aus anderen sozialen Bewegungen schon längst bekannt: Wie kann es gelingen, die allgemeine Gefühlsskepsis im Denken und der Praxis in der deutschen Linken aufzubrechen und sich nicht das Potenzial emotionaler Energien für soziale Veränderungen zu verschenken?
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Dieser Artikel ist Teil unserer Serie „Linker Osten“. In den kommenden Tagen werden wir bei Supernova über Menschen und Strukturen berichten, die sich in Sachsen und Brandenburg rechten Strukturen entgegenstellen.