Hallo Mama, wenn du das hier liest – natürlich liebe ich dich. Aber es gibt eine Sache, über die ich sprechen muss, weil ich sie schon viel zu lange verschwiegen habe. Und sie mich krank gemacht hat. Der Fachbegriff ist „Parentifikation“ – ein Terminus aus der Familientherapie, der besagt, dass Rollen und Verantwortungen von Kindern und Eltern vertauscht werden. Das erste Mal habe ich diesen Begriff gehört, als ich mit Geflüchteten gearbeitet habe. Es betrifft die Kinder, die beispielsweise im Grundschulalter schnell Deutsch lernen und dann als die privaten Dolmetscher*innen ihrer Eltern fungieren. Ich verstehe den Stolz der Eltern, deren Kinder bereits nach wenigen Monaten gut Deutsch sprechen und beim Arzt, der Arbeit oder bei Ämtern vermitteln können. Aber es gibt Grenzen und die Verantwortung sollte bei den Eltern bleiben und nicht auf die Kinder übertragen werden. Bei Geflüchteten würde diese Verantwortung der Eltern oder Behörden beinhalten, dass ein*e professionelle*r Dolmetscher*in zu Rate gezogen wird – nicht das eigene Kind.
Ich war sehr beeindruckt, dass es sich um ein Phänomen handelt, das wissenschaftlich bzw. therapeutisch betrachtet wird. Ich dachte immer, ich sei ganz allein mit dieser absurden Rollenvertauschung mit meiner Mutter.
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Es ist Samstagabend, ich sitze ausgelassen mit einer Freundin und Rotwein in der Küche, da ruft meine Mutter an. Komische Zeit eigentlich. Sie hat Liebeskummer. In den letzten Monaten hat sie das Online-Dating für sich entdeckt und datet wild herum. Aber nicht wie ich es mit Mitte Zwanzig machen würde, nein, Mama ist direkt immer mit Uwe, Stefan oder Roman „zusammen“. Naja, Roman hatte auf jeden Fall vor ein paar Tagen Schluss gemacht. Keine Ahnung wieso, ging ihm vielleicht zu schnell oder so. Meine Mutter schluchzte und weinte, ich fühlte sehr mit ihr. Würde ich nicht 600 Kilometer entfernt sitzen, würde ich sie in den Arm nehmen und ihr sagen, dass Roman ein Idiot sei, sie so viel Besseres verdient hätte und der Schmerz wieder vorbeigehe.
Wieso ruft sie nicht irgendeine Petra-Freundin an
Die Komponente, die mir jedoch den Atmen stocken ließ, war der Fakt, dass meine Mutter sturzbetrunken war. Ich kenne sie jetzt schon ein paar Jahre und sie trinkt nie. Höchstens mal ein Glas Wein oder zum Abiball meines Cousins einen Sekt. Wie verzweifelt muss meine Mutter also sein, sich mehr als eine halbe Flasche Bacardi reinzustellen? „Oh, mir ist so schlecht“. Ich musste mich erst sammeln und auflegen, zurück in die Küche gehen und aus Verzweiflung weinen. Was passiert da? Meine Mutter ruft mich – ihre Tochter – sturzbetrunken mit Liebeskummer an. Wieso ruft sie nicht irgendeine Petra, Susanne oder Heike-Freundin an? Die Situation und die Überforderung ist kaum auszuhalten. Als ich mich wieder auf- und eingesammelt habe, rufe ich sie zurück und wir besprechen das weitere Vorgehen: Kotzen, Tee, Bett. „Besser?“-„Ja, mir ist so schlecht, ich werde jetzt einfach schnell schlafen.“
Ich wache am nächsten Morgen wie gerädert auf und im Supermarkt mache ich monatelang einen großen Bogen um Bacardi. Wenn ich mit Menschen aus meinem Umfeld spreche, habe ich oft das Gefühl, dass ich nicht die Einzige mit derartigen Eltern-Kinder-Dynamiken bin. Es ist quasi omnipräsent und totgeschwiegen. Ich will mich nicht gegen ein gutes oder freundschaftliches Verhältnis zu den Eltern aussprechen. Absolut nicht. Eine flache Hierarchie ist auf jeden Fall wünschenswert, Eltern können natürlich auch Rolemodels sein. Aber es ist manchmal ein schmaler Grad zwischen einem engen Verhältnis und Parentifikation. Diese kann bewusst erfolgen, in den meisten Fällen ist sie jedoch unterbewusst. Meine Mutter rief mich nicht mit dem Gedanken an „Oh ja, jetzt kehre ich die Rollen mal um und verlange meiner Tochter etwas ab, was eigentlich kein Kind für ein Elternteil leisten sollte“. Letztendlich ist die Parentifikation ein Ausdruck eigener Hilflosigkeit beziehungsweise Belastung der Eltern.
Zu viel Verantwortung für ein Kind
Mittlerweile bin ich sensibilisiert für die Auswirkungen der Parentifikation. Oft erlaube ich mir nicht, ein leichtes unbeschwertes Leben zu führen, wenn ich weiß, dass es meiner Mutter nicht gut geht. Ich fühle mich regelrecht schuldig. Mein Kopf ist so auf „Dir darf es nicht gut gehen, wenn es Mama nicht gut geht“ konditioniert. Ich erinnere mich an pubertäre Jahre, die überwiegend nicht von einer „fuck off“- Mentalität geprägt waren, sondern von einem „Ach, ich fühle so mit Mama, natürlich macht sie sich Sorgen, wenn ich nachts spät nach Hause komme, dann komme ich lieber um 21 Uhr, dann sehe ich sie auch noch und wir können kurz reden.“ Wenn ich so offen darüber spreche, schäme ich mich dafür, wie ich aufgewachsen bin. Ich habe aber auch Mitgefühl mit dem kleinen Mädchen, auf das ich mittlerweile rückblickend schaue, das so viel Verantwortung übernehmen musste und sich und seine kindlichen Bedürfnisse dermaßen zurückgestellt hat.
Der betrunkene Anruf meiner Mutter war unter anderem der Auslöser dafür, dass ich mir professionelle Hilfe geholt habe. Das Verhältnis, das ich viele Jahre lang gar nicht hinterfragt hatte und mich eher immer darüber gefreut hatte, dass wir uns so nah standen, kippte um zu einer extremen Belastung und massiven Überforderung. Ich realisierte, dass ich mein Leben lang dachte, meine Mutter nicht mit meinen eigenen Themen oder Belangen belasten zu dürfen. Ich habe meine Bedürfnisse nach Halt und Gehalten werden, nach gesehen werden, nach Kind-Sein, nach kopflos und unbeschwert sein, völlig zurückgestellt. Ich habe immer darauf geachtet, keine Belastung für meine Mutter darzustellen. Weil sie selbst so belastet war, wollte wenigstens ich keine weitere darstellen.
Überangepasst und übervorsichtig ging ich durchs Leben
Überangepasst, übervorsichtig und immer schön auf die Bedürfnisse meiner Mutter reagierend – so ging ich lange Jahre durch mein Leben. Und das nicht nur bei meiner Mutter. Dieses frühkindliche Schema übertrug sich auf viele Beziehungen. Natürlich ist es sehr schön, so sensibel zu sein und auf die Bedürfnisse meiner Mitmenschen eingehen zu können. Was dabei auf der Strecke blieb, war meine eigene Bedürfnisbefriedigung oder überhaupt das Wahrnehmen, dass ich auch eigene Bedürfnisse habe. Ich verlor mich selbst aus dem Blick beim Schauen auf alle anderen. Mit therapeutischer Hilfe erkannte ich dies und bin meiner Mutter dankbar, dass sie mit dem besoffenen Anruf den Startschluss für mein Loslösen gegeben hat.
Wenn ich mit Menschen aus meinem Umfeld spreche, habe ich oft das Gefühl, dass ich nicht die Einzige mit sogenannten dysfunktionalen Eltern-Kinder-Dynamiken bin. Bloß nicht das gutbürgerliche Einfamilienhaus-Glück hinterfragen oder mitteilen, dass Mama gar nicht immer so strahlend und perfekt geschminkt war, wie sie aussah und Papa nicht immer so sanftmütig war, wie mit den Nachbar*innen. Mit der Hilfe von Therapien und Klinikaufenthalten kann ich mittlerweile sehen, wie schwerwiegend diese Parentifikation ist und wie sie sich zum Beispiel in meinem Selbstvertrauen und meinem Umgang mit Menschen widerspiegelt. Das mich und meine Bedürfnisse zurücknehmen und für andere da sein ist so internalisiert, also verinnerlicht. Im besten Falle wollen Eltern nur das Beste für ihre Kinder. Das will ich nicht in Frage stellen. Aber Grundbedürfnisse von Kindern wie eine freie Entfaltung, Aufmerksamkeit und Sicherheit werden durch die Parentifikation nicht erfüllt. (Erwartungs-)Druck, Angst und Einschränkungen sind eine ständige Begleitung von Kindern, die mit belasteten Eltern aufwachsen.
Eine emanzipatorische Perspektive auf das Eltern-Kind-Verhältnis bzw. die Parentifikation beinhaltet, dass Kinder ihre eigenen Bedürfnisse befrieden, bei sich bleiben und somit zu weniger belasteten Erwachsenen heranwachsen. Also seid mutig und geht in einen Dialog – im Sinne von Emanzipation, Selfcare, Grenzen ziehen und so! Fangt an, über die Verhältnisse zu euren Eltern zu sprechen, über eigenartig erscheinende Rollenverdrehungen und subtile Erwartungshaltungen. Eure Psyche wird es euch danken – und eure vielleicht-irgendwann-mal-Kinder auch!
Ach und was ist nun aus dem Liebesleben meiner Mutter geworden? Sie hat einen neuen Mann kennengelernt, diesmal nicht online sondern in der Disko. Letzte Woche war ich zu Besuch, ihr Kinn war ganz rot und rau. „Ja, das kommt vom Knutschen, hihi“.