Die Bekleidungsindustrie ist streng mit Körpern. Nur wer in Normen vorgebende Kleidergrößen passt, hat wirklich eine Auswahl. Für kleinwüchsige Leute hat sich die Modedesignerin Sema Gedik etwas einfallen lassen. Wie belastend shoppen gehen für sie sein kann, hat die Modedesignerin bei ihrer Cousine, die kleinwüchsig ist, gesehen.
„Von ihr weiß ich, wie kostenaufwendig und zeitintensiv es ist, Kleider zu kaufen. Ich habe mich gefragt, warum sich bisher keine Bekleidungsfirma dieses Themas gewidmet hat“, sagt Sema Gedik. Grund genug, das endlich zu ändern: Das Modelabel „Auf Augenhöhe“ mit Kleidung für kleinwüchsige Menschen war geboren.
Rund 100.000 Menschen in Deutschland gelten als kleinwüchsig, haben also eine Körpergröße von unter 1,50 Metern. 100.000 Menschen, die nur mit großen Schwierigkeiten passende Kleidung kaufen können und Hosen, Pullis oder Hemden in Änderungsschneidereien umnähen lassen müssen. Was für eine Lücke, die die Bekleidungsindustrie partout ignorierte.
Dass es einen hohen Bedarf nach Mode für kleinwüchsige Menschen gibt, erkannte Sema Gedik, als sie 2013 während ihres Modedesignstudiums in Berlin nach einem geeigneten Projekt für ihren Bachelorabschluss umsah. „Nach meinem Wissensstand gab es weltweit kein einziges Label, das Kleidung für Kleinwüchsige anbot.“ Gedik ging es dabei auch um den politischen Faktor. „Mode ist politisch. Das beste Beispiel dafür ist der Kampf von Frauen, auch Hosen tragen zu dürfen“, sagt die Neuköllnerin.
Schwierig mit den Größen
In der Branche war man erst einmal nicht so gut an. „Als ich damit anfing, hörte ich noch Sätze wie: Das ist doch keine Mode!“, berichtet Gedik. „Meine sozialpolitische Bubble hingegen hat mich total bestärkt.“ Die größte Hürde bei der Labelgründung begegnete ihr gleich zu Beginn. „Ich musste ein Konfektionsgrößensystem erstellen, weil kleinwüchsige Menschen nicht ins konventionelle Größensystem passen.“ Es gibt außerdem unterschiedliche Ausprägungen von Kleinwuchs. Der Bundesverband Kleinwüchsige Menschen und ihre Familien e.V. benennt 650 verschiedene Formen, etwa hormonellen Kleinwuchs oder Skelettdysplasien, Fehlbildung des Knochen- beziehungsweise Knorpelgewebes, bei denen sich unter anderem auch die Proportionen der Körper unterscheiden. Bei Achondroplasie beispielweise, der häufigsten Variante, sind die Extremitäten verkürzt, der Kopf dafür größer. Durch Peter Dinklage, Darsteller des Tyrion in der Serie Game of Thrones, ist diese Form des genetischen Kleinwuchses weltweit bekannt geworden.
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Sema Gedik vermutet in der Schwierigkeit, ein Größensystem zu erstellen, den Hauptgrund, aus dem dieser Bereich in der Modeindustrie bisher zu kurz kam. Sie hat inzwischen von mehr als 600 kleinwüchsigen Menschen die Maße genommen und eine eigene Software entwickelt, um Körpermaße zu verstehen. So hat sie, ihres Wissens nach, die weltweit erste Größentabelle für kleinwüchsige Menschen geschaffen.
Dabei fiel Gedik auf: Auch bei kleinwüchsigen Menschen ergeben Konfektionsgrößen von XS bis XL Sinn. Entsprechend kleinteilig ist ihre Arbeit derzeit noch. „Wir haben gerade 15 verschiedene Größen für Männer- und 15 für Frauenkleidung, das ist total viel.“ Mit ihrem Team versucht sie deswegen, die Designs zu optimieren, um weniger Größen produzieren zu müssen. Das hätte einen Vorteil: „Gibt es weniger Größen, würden es andere Unternehmen eher wagen, Designs in Kooperation mit uns zu machen.“
Bisher läuft alles noch über Made-to-order; die Bestellungen im Onlineshop werden über die Woche gesammelt und dann in Schneiderwerkstätten in Berlin gefertigt. Noch gibt es keine Läden, in denen die Kleidung des Labels hängt. Zukünftig möchte Gedik aber auch in Vorproduktion gehen, um in Pop-up-Stores vertreten zu sein. „Wir bekommen oft E-Mails von kleinwüchsigen Menschen, die uns nach den Größen fragen, weil es bis dato kein einheitliches System gab“, sagt die Berlinerin. „Es wäre total cool, Läden nennen zu können, in denen unsere Kleidung anprobiert werden kann.“
Die Kleider sind stylisch und in modernen Schnitten und Farben gehalten. Bisher hat Gedik sie in Zusammenarbeit mit kleinwüchsigen Menschen entwickelt, seit diesem Jahr ist mit Viola Zecher auch eine kleinwüchsige Designerin beim Label dabei.
Dass sie mit ihrem Ansatz richtig liegt, zeigt ihr Erfolg. Es läuft gut für das Label. Mittlerweile kommen Onlinebestellungen aus vielen Ländern herein. „USA, Norwegen, Australien, Spanien, Frankreich…“, zählt die Modedesignerin stolz auf. Medien rund um die Welt, von Chile über die Türkei und Indonesien bis nach Brasilien, haben bereits über sie berichtet.
Aber jetzt durchkreuzt die Corona-Pandemie auch Sema Gediks Pläne. Eigentlich war für vergangenes Jahr geplant, erstmals in Pop-up-Stores zu gehen. „Jetzt hoffen wir, dass es noch dieses Jahr klappt, um unsere Mode lokal anzubieten, aber realistisch rechnen wir mit 2022“, erzählt Sema Gedik. Bis dahin läuft der Onlineverkauf weiter.
Und vielleicht ändert sich auch gesamtgesellschaftlich ein bisschen etwas. Bewegungen wie Body Positivity prägen nicht nur die Gesellschaft, sondern natürlich auch die Mode. „Ich habe bemerkt, dass Mode ein Werkzeug ist, um Diskriminierungen zu thematisieren“, sagt Gedik. Deswegen auch ihr Appell an andere, seien es Organisationen, Unternehmen oder Privatpersonen, die sich damit beschäftigen: Inklusion nicht als saisonalen Trend zu betrachten und nach der Teilnahme eines „spannenden Workshops“ wieder damit aufzuhören, sondern langfristig darauf hin zu arbeiten.