Die Straße entlang reiht sich Polizeiwanne an Polizeiwanne. Dazwischen verteilen sich vermummte Beamte, bestimmt 70 oder 80, die die Gegend großflächig sichern. In der Luft kreist eine Drohne über der Südstadt in Tübingen. Ein schockierendes Bild für die Anwohner*innen. „Ich hab‘ gedacht, es ist ein Terroranschlag passiert. Oder ein Mord. Auf jeden Fall was Schlimmes“, blickt ein Nachbar zurück. Umso größer ist bei vielen die Wut, als sie erfahren, was diesen großen Einsatz rechtfertigen soll: Es geht um eine Hausdurchsuchung in dem selbstverwalteten Wohnprojekt Lu15. Was war passiert?
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Es reichte aus, dass in der Nacht auf den 4. Februar 2020 zwei linke Aktivist*innen vor dem Landgericht entdeckt worden waren – und, unweit von ihnen im Gebüsch, ein mit Farbe gefüllter Feuerlöscher und der Verdacht, sie hätten das Gebäude beschmieren wollen. Der Vorwurf: Eine vermutete, versuchte Sachbeschädigung.
„Das habe ich extrem beängstigend erlebt“
Die beiden wurden sofort verhaftet und auf verschiedene Polizeiwachen gebracht. Was dann folgte, war für die bisher polizeilich unbekannte Jana* ein Albtraum. Stundenlang verhörte man sie, obwohl sie von Anfang an ihre Aussage verweigerte. Polizisten, die sie immer wieder anschrien. Und auf einmal drohte man ihr, sie für 45 Straftaten verantwortlich zu machen, die sie angeblich begangen habe. Teils lagen diese Jahre zurück und bis hin zu brennenden Autos war alles dabei. „Das habe ich extrem beängstigend erlebt“, erzählt sie später und sieht von einer Bank aus auf den Sternplatz, auf dem es damals vor Polizist*innen nur so wimmelte.
Mittlerweile ist Ruhe in der Gegend eingekehrt. Es ist ein kalter Abend und der Besitzer des arabischen Supermarkts auf dem Platz räumt gerade zusammen. An einer Hauswand daneben verkündet ein Graffito „No Sexism, No Racism, No Cops“.
Bis Tausend zählen, um nicht wahnsinnig zu werden
Jana dagegen hat noch immer mit den Folgen ihrer Festnahme und den langen Stunden in der Arrestzelle zu kämpfen. Immer wieder denkt sie daran, wie die Polizisten die einzige weibliche Kollegin nach draußen schickten und Jana sich für eine Durchsuchung nackt ausziehen musste. Als sie dem Haftarzt sagte, dass sie regelmäßig Medikamente einnehmen musste, bestätigte er dies – und doch sorgte keiner dafür, dass sie die für ihre Gesundheit wichtigen Medikamente auch bekam. Vor der Zelle wurden ihr erneut die Klamotten abgenommen. Für die nächste Zeit waren da nichts als ein paar Quadratmeter, eine Metalltür mit der Aufschrift „videoüberwacht“, eine Kamera in der Ecke und eine Sprechanlage mit rotem Knopf.
„Dass die mich die ganze Zeit sehen konnten, das war super demütigend“, erzählt sie. In ihrer Stimme liegt ein Zittern, als sie sich daran erinnert, wie sie nackt in der Zelle kauerte. Verzweifelt versuchte sie, ihren Körper mit den Armen zu schützen, bis Tausend zu zählen, um nicht wahnsinnig zu werden. Es gab kein Essen, kein Trinken, keine Möglichkeit zum Toilettengang. Nur ein helles Neonlicht, das unablässig brannte und ihr das letzte Bisschen Zeitgefühl nahm. „Das entscheiden wir“, war die barsche Antwort eines Polizisten auf ihren Wunsch, es auszuschalten. Auch eine Decke bekam sie nicht. Und so keine Möglichkeit, sich vor der Kälte und den Blicken der Polizisten, die alle ein, zwei Stunden in die Zelle kamen, schützen zu können. „Das hat mir viel Angst gemacht, weil ich immer gedacht hab‘: Was, wenn noch was passiert? Das ist so eine der Situationen, von denen ich noch viel träum‘. Und dass ich gar nicht wusste, wie lange ich noch hier bleiben muss. Wie lang das noch weitergeht.“ Von polizeilicher Seite heißt es: „Dieses Vorgehen ist nicht zu beanstanden und hat mit einer menschenunwürdigen Behandlung nichts gemein.“
„Von allen Seiten sind sie hergestürmt. Gleich mit dem Brecheisen in der Hand“
Während Jana in Gewahrsam saß, riegelten Polizist*innen die Lu15, in der sie wohnt, komplett ab. „Ich war hinten im Garten, da sind sie auf einmal gekommen“, erzählt Fabian*, einer der Bewohner des selbstverwalteten Wohnprojekts, dessen Geschichte auf eine Besetzung in den Siebzigern zurückgeht und das seither daran arbeitet, Freiräume in Tübingen zu schaffen. So werden beispielsweise ein Umsonstladen und ein Foodsharing-Regal organisiert.

Es ist nicht das erste Mal, dass die Bewohner*innen mit polizeilichen Repressionen zu kämpfen haben. Bereits 2016 wurden sie rechtswidrig einen ganzen Monat lang überwacht, weil das Wohnprojekt mit zwei angezündeten Autos in Verbindung gebracht wurde. Dass die Überwachung nicht rechtens war, räumte die Staatsanwaltschaft erst ein Jahr später ein. „Von allen Seiten sind sie hergestürmt. Gleich mit dem Brecheisen in der Hand“, fährt Fabian in seiner Erzählung fort. Aus Sorge um seinen Hund eilte er zu ihm und schrie „Hilfe, Polizei!“, um die anderen aufmerksam zu machen. Doch da wurde er schon grob zu Boden gestoßen – laut Darstellung der Polizei ging er freiwillig in die Hocke. „Ich will nur meinen Hund festhalten“, keuchte er, während ein Beamter ihn mit einem Griff fixierte. Auf Fabians Frage nach einem Durchsuchungsbeschluss wurde ihm keiner gezeigt, erst viel später bekamen die Bewohner*innen ihn zu Gesicht.
Für die nächsten drei Stunden wurde das Haus und der Garten bis in den letzten Winkel durchsucht, darunter auch Privaträume, für die kein Durchsuchungsbeschluss vorlag. Farbeimer, Kleidungsstücke, Laptops und Handys wurden beschlagnahmt. Und auch Bargeld, das in der Beschlagnahmung gar nicht mehr aufgeführt wurde. Laut einem Sprecher der Polizei war die massive Präsenz wichtig, um einen sicheren Einsatz zu gewährleisten und zu verhindern, dass Beweismittel vernichtet werden. Um Schnelligkeit zu gewährleisten, sei es auch legitim gewesen, die Kellertür zu zerstören.
Als unabhängige Zeugin war eine Angestellte der Stadt dabei, doch laut Fabians Aussage habe sie die Durchsuchung kaum beobachtet. „Es gibt also nicht wirklich Beweise, was man tatsächlich bei uns gefunden hat.“
„Wenn’s irgendwie sein muss, sind die Leute am Start, das hat ziemlich gut getan“
Die Geschehnisse sprachen sich schnell in der linken Szene herum und innerhalb kürzester Zeit waren viele Menschen auf der Straße. Auch in der Nachbarschaft fand das Wohnprojekt Unterstützung. Immer wieder bekamen sie Mails, in denen ihnen Solidarität bekundet wurde. „Wenn’s irgendwie sein muss, sind die Leute am Start, das hat ziemlich gut getan“, blickt Fabian zurück. Innerhalb weniger Tage wurden in Tübingen zwei Demos organisiert, die sich gegen die Repressionen richteten und lautstark durch die Straßen zogen. Mit bis zu 450 Unterstützer*innen – und auch hier übermäßig viel Polizeipräsenz.
Jana nickt zustimmend und meint mit einem leichten Lächeln: „Ich und wir alle wurden gut von der Szene aufgefangen. Wir sind nicht alleine, sondern viele und das ist, was uns stark macht.“
Nur wenige Tage nach der Durchsuchung in der Lu15 ermordete ein rechtsextremer Terrorist in Hanau zehn Menschen. Wieder einmal bleibt die Frage: Was, wenn Linke bald mit so vielen Repressionen zu kämpfen haben, dass sie kaum noch antifaschistische Arbeit leisten können? Was dann?
(*Namen zum Schutz der beiden geändert)