Ein Gesundheitssystem, das nach langen Protesten des Krankenhauspersonals unter der Belastung durch Covid-19 zusammen zu brechen droht. Eine Bevölkerung, die sich massiven Einschränkungen ihrer Freiheitsrechte ausgesetzt sieht. Frankreich brodelt. In den letzten anderthalb Jahren fand der politische Diskurs vor allem auf den Straßen statt. Doch wie steht es um den Aktivismus zu Corona-Zeiten? Findet politischer Protest weiter statt?
Vincent Kulesza ist Politikwissenschaftler, Soziologe und politischer Aktivist. Er lebt in Paris und arbeitet im Banlieue La Courneuve im Bereich lokale Demokratie. Kulesza war lange Zeit bei der Gilets- Jaunes-Bewegung aktiv. Außerdem ist er Gründungsmitglied des Vereins „Miriade“, der sich mit Migration und Rassismus in der französischen Gesellschaft auseinandersetzt. Mit ihm sprach für „Supernova“ Demba Sanoh.
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In Frankreich gibt es eine Ausgangssperre, die kürzlich bis zum 11. Mai verlängert wurde. Wie sieht das Ganze aus? Was ist erlaubt und was nicht?
Es ist einfacher damit anzufangen, was erlaubt ist, denn das ist gar nicht so viel. Wir dürfen nur machen, was lebensnotwendig ist: Also vor allem einkaufen gehen. Zur Arbeit gehen ist natürlich auch erlaubt. Außerdem darf man hilfsbedürftige Familienmitglieder besuchen . Und man darf einmal am Tag, für eine Stunde, im Umkreis von einem Kilometer des Wohnortes entweder mit Angehörigen des gleichen Haushalts spazieren gehen, mit dem Hund raus oder alleine Sport treiben. In manchen Städten gibt es darüber hinaus noch Sonderregeln.
Wie wird das Ganze von der Polizei überprüft?
Jedes Mal, wenn man das Haus verlässt, muss man ein Formular mit sich führen, entweder auf dem Handy oder in Papierform, auf dem das Datum, die Uhrzeit und der Grund für das Verlassen des Hauses verzeichnet ist.
Das sind tiefgreifende Einschränkungen der Freiheitsrechte. Umfasst die Ausgangssperre in Frankreich ein Versammlungs- oder Demonstrationsverbot?
Es gibt ein Verbot für Versammlungen mit über 100 Personen, aber kein explizites Demonstrationsverbot. Meiner Meinung nach wäre es schwierig für die französische Regierung, ein generelles Demonstrationsverbot zu erlassen, da dies eine sehr starke Einschränkung der Grundrechte bedeutet. Aber gleichzeitig finden nur Dinge statt, die explizit erlaubt sind. Das heißt, indirekt wird alles, was nicht dazu zählt, wie Demonstrationen, verboten.
Wird versucht das zu umgehen?
Es gibt kreative Versuche, dennoch zu demonstrieren. Vor kurzem gab es z.B. eine Demo von Geflüchteten in Montreuil (bei Paris, D.S.), die für einen Aufenthaltsstatus für sich und gegen die katastrophalen Bedingungen in ihrer Unterkunft demonstrierten. Dabei wurde darauf geachtet, Mindestabstand zu halten, es wurden Masken getragen und die Anzahl an Protestierenden gering gehalten. Ähnliche Aktionen gab es von medizinischem Personal in Krankenhäusern. Das sind allerdings Einzelfälle. Verbreiteter sind Spruchbänder an Häuserwänden und Fenstern, die politischen Protest und Forderungen z.B. zur Situation des Gesundheitssystems, nach außen tragen.
In Deutschland werden kreative Demonstrationsformen dieser Art meistens schnell von der Polizei aufgelöst. Wie verhält sich die Polizei in Frankreich in solchen Fällen?
Die Größenordnung ist bisher zu gering, um da gefestigte Aussagen zu treffen, aber bisher scheint es nicht so zu sein, dass die Polizei strikt dagegen vorgeht. Abgesehen davon, dass solche Proteste nur sporadisch vorkommen, ist das Verhältnis zwischen Polizei und Bevölkerung generell angespannt und ich kann mir vorstellen, dass von Seiten der Polizei versucht wird, nicht noch weiter Öl ins Feuer zu gießen. Man muss aber auch klar sagen, dass es momentan keine große Bewegung auf den Straßen gibt und deswegen auch keine polizeiliche Antwort. Auf der anderen Seite gibt es seit Ostern vor allem in den sozial schwächeren Banlieues Ausschreitungen mit der Polizei, die aber nicht mit Demonstrationen zusammenhängen.
Inwiefern?
Am Osterwochenende gab es einen Vorfall bei dem ein Motoradfahrer in einer Banlieue (in Villeneuve-La-Garenne, D.S.) bei einem Zusammenstoß mit der Tür eines Polizeiwagens schwer verletzt wurde. Augenzeugen sagen, die Polizisten hätten den Unfall forciert, die Polizei bestreitet das. Auf diesen Vorfall sind die jüngsten Ausschreitungen möglicherweise zurück zu führen. Dazu muss man sagen, dass die Ausgangssperre generell die soziale Ungleichbehandlung und Ungleichheit in Frankreich deutlich macht und verstärkt. Es gelten zwar prinzipiell überall die gleichen Regeln, aber je nachdem wo man wohnt, was für einer sozialen Schicht man angehört, welche Hautfarbe man hat, fällt die Durchsetzung dieser Regeln durch die Polizei unterschiedlich aus. Außerdem sind die Strafen bei Regelverstößen so hoch, dass es für viele Menschen zu riskant ist, sich nicht an die Ausgangssperre zu halten. Das zeigt, dass der französische Staat gewillt ist, die Menschen von den Straßen fernzuhalten und letztendlich auch von der Möglichkeit, zu protestieren.
Verschiebt sich Protest dadurch auch ins Internet?
Ja, auf jeden Fall. Es gibt Online-Demos, Online-Petitionen oder Aufrufe in den sozialen Medien, an bestimmten Tagen zu bestimmten Themen, wie z.B. auch dem Klimawandel, Spruchbänder rauszuhängen. Witzigerweise gab es auch eine Gilets-Jaunes-Demo im Video-Spiel „Animal Crossing“, inklusive Anti-Macron Spruchbändern und gelben Westen. Zusätzlich finde ich wichtig zu betonen, dass Protest momentan nicht mehr nur als Reaktion verstanden werden muss, sondern, aktiv von der Bevölkerung ausgehend, Solidarität und Versorgung organisiert wird und darüber nachgedacht wird, was für Wege nach der Krise beschritten werden können. Das zeigt, dass die Leute versuchen diejenigen, die keine Einkünfte oder Papiere haben, nicht auf der Strecke zu lassen und die Versorgung von armen oder kranken Menschen zu gewährleisten. Es gibt viele Familien, die am Hungertuch nagen, weil sie zuvor im informellen Sektor gearbeitet haben und denen nun die Einkünfte fehlen. Außerdem gibt es Aufrufe Masken selbst zu produzieren, was einerseits zeigt, dass der Staat und der Markt versagen, andererseits aber auch zeigt, dass die Bevölkerung in der Lage ist, sich selbst zu organisieren.
Könntest du Beispiele für Initiativen nennen, die sich gerade in dem Bereich engagieren?
In La Courneuve, wo ich auch arbeite, gibt es einen Verein, der normalerweise eine Selbsthilfe-Autowerkstatt betreibt, der nun eine Nähwerkstatt namens La Fabrique citoyenne 93 eingerichtet hat, in der Leute unter Beachtung der Hygienestandards Masken produzieren. Gleichzeitig haben sie Selbstmach-Kits geschaffen, die Leute nutzen können, Eine andere Initiative wären die Brigades de solidarité populaire – das ist eine selbstorganisierte Lebensmittelverteilung. Die kommen eh schon aus dem organisierten Aktivistenmilieu und haben nun in verschiedenen Städten in ganz Frankreich Stellen, an denen vorrangig Lebensmittel verteilt werden. Aber sie stellen auch Lernmaterial wie Computer, Stifte, Papier etc. für Kinder aus sozial benachteiligten Familien zur Verfügung, .
Geben dir solche Initiativen Hoffnung für die Zukunft?
Ja. Bei all den negativen Dingen habe ich die Hoffnung, dass die Krise auch langfristige Verbesserung mit sich bringt. Diese gelebte Solidarität und Selbstorganisation könnten dafür sorgen, dass die Gesellschaft nach Corona gemeinsam klare Forderungen stellt und sich darüber einig wird, was gerade politisch nicht gewollt ist. Mein Wunsch ist, dass alle Aktivisten der verschiedensten Lager begreifen: Wir haben gemeinsam einen Kampf zu führen!
Morgen ist der 1. Mai, traditionell ein internationaler Tag des Protests der Arbeiterbewegung. Sind für diesen Tag in Frankreich Proteste oder Demonstrationen geplant? Wie organisieren sich die einzelnen Initiativen und vor allem die Gewerkschaften?
Vereinzelte Kollektive und kleinere Gewerkschaftsgruppen rufen dazu auf am 1. Mai den Protest auf die Straße zu tragen – allerdings in kreativer Weise und unter Berücksichtigung der Sicherheitsmaßnahmen. Die großen Gewerkschaften, wie z.B. die CGT (Conféderation générale du travail), rufen dagegen dazu auf online und mit Spruchbändern am Fenster zu demonstrieren. Ich gehe davon aus, dass es zu einem eher kleinen ersten Mai kommt.