Kolumbien befindet sich in Aufruhr – seit dem angekündigten Generalstreik am 21. November kommt es im ganzen Land täglich zu Protesten. Durch Streiks, Straßenblockaden und die „Cacerolazos“, den Protest mit ordentlich Lautstärke, macht die kolumbianische Bevölkerung auf ihre Unzufriedenheit aufmerksam. Für Supernova hat Valentina Mariebelle mit drei jungen Kolumbianer*innen darüber gesprochen, wie sie die Proteste erlebt haben und was ihnen dabei besonders wichtig war. Alle drei möchten nicht mit einem Foto abgebildet sein.
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Natalia (24)
Meiner Erfahrung nach, ich bin morgens zum Marsch gegangen, war das alles sehr ruhig, sehr entspannt. Wir sind mit einer Gruppe aus der Universidad del Valle, der öffentlichen und wohl auch der linkesten Universität von Cali, hingegangen. Es gab viel Kunst, Musik, es wurde viel getanzt. Viele sind auf Brücken geklettert, um Banner anzubringen. Manche haben selbstgeschriebene Lieder, über verschiedene Politiker und über Kolumbien, gesungen. Da gab es viel Kultur, die Demonstrant*innen haben selbstgemachte Plakate mit schönen Nachrichten mitgebracht. Auf einem stand „Lass nicht zu, dass deine Privilegien deine Empathie vernebeln“, das hat mir gut gefallen.
Natürlich wurde auch speziell für Frauenrechte protestiert, viel zum Thema Abtreibung und vor allem häuslicher Gewalt, das ist ein sehr verbreitetes Problem. Dazu kommt, dass die juristische Verfolgung von Sexualverbrechern bisher miserabel bis nicht-existent gewesen ist.
Am Dienstag hat eine große Protestaktion in Cali stattgefunden, bei der sich über 500 Frauen versammelt und im Chor das Lied „Un violador en tu camino“ gesungen und dazu performt haben. Das Lied ist während der Proteste in Chile entstanden und hat sich inzwischen bis nach Frankreich verbreitet. Die ersten Zeilen des Lieds lauten:
„Das Patriachart ist ein Richter, der uns verurteilt, weil wir geboren wurden und unsere Strafe ist die Gewalt, die du nicht siehst. Das Patriachart ist ein Richter, der uns verurteilt, weil wir geboren wurden und unsere Strafe ist die Gewalt, die du siehst. Es sind Feminizide. Straffreiheit für meinen Mörder. Meine Vergewaltigung. Und es liegt nicht an mir, nicht daran wo ich war und nicht daran wie ich gekleidet war.“
Man muss sich den ganzen Platz voll von Frauen vorstellen, die alle so unterschiedlich sind und sich alle synchron in einer Choreografie bewegen und singen. Es war unglaublich, ich habe nur Videos gesehen, aber da habe ich eine Gänsehaut bekommen.
Ich selbst war ungefähr zwei Stunden lang bei einem Protestmarsch und es war sehr friedlich und angenehm, obwohl die Sonne sehr stark war haben die Leute weiter gemacht. Daran kann man sehen wie wichtig das alles für uns ist, und ich hoffe die Regierung sieht das auch.
Gustavo (30)
Bisher war ich nur bei einem der „Cacerolazos“ – auf Deutsch Auflauf – vor dem Bildungsministerium von Cali. Diese Protestform hat eine symbolische Bedeutung. Damals wollten die Bürger*innen sich bei einer Demonstration im wahrsten Sinne des Wortes Gehör verschaffen. Da die Bevölkerung in Kolumbien sehr arm ist, hat die Mehrheit der Menschen keine aufwendigen Mittel, um Lärm zu erzeugen. Dagegen sind in praktisch jedem Haushalt Töpfe, Auflaufformen (cacerolas) und Holzlöffel vorhanden. Das sind Objekte, zu denen alle Zugang haben und die wie eine Trommel verwendet werden können. Die Bedeutung der „Cacerolazos“ ist also auf die Selbstermächtigung der einfachen Leute zurückzuführen, die sich vereint haben, um gehört zu werden.
Jetzt ist unsere Gelegenheit, etwas in unserem Land zu verändern und die Macht zur Bevölkerung zurück zu bringen
Wir haben lange geschlafen, aber jetzt ist der Moment gekommen, um unsere Rechte einzufordern. Seit die neue Regierung an der Macht ist, ist die Zahl der Toten gestiegen. Es wurden viele politische Aktivisten ermordet und in der Provinz Cauca töten sie unsere indigene Bevölkerung. Präsident Duque steht unter dem Einfluss des Ex-Präsidenten Uribe und handelt nicht eigenständig. Jetzt ist unsere Gelegenheit, etwas in unserem Land zu verändern und die Macht zur Bevölkerung zurück zu bringen. Wir wollen keine weiteren Toten durch die Regierung und die ESMAD, die Polizei für Zivile Unruhen. Der Staat gibt Anweisungen die Proteste gewaltsam zurückzuschlagen, es ist auch vorgekommen, dass sich die Polizei bei Demonstrationen einschleust und gezielt Ausschreitungen anstiftet. All das hat seinen Höhepunkt genommen als die ESMAD den 18-jährigen Dilan Cruz bei einer Demonstration in Bogota so schwer verletzte, dass er später daran starb.
Die meisten Kolumbianer*innen haben ihr Vertrauen in die Regierung verloren, die massive Korruption spielt dabei eine große Rolle. Um die Situation zu entspannen, müsste der Präsident einen Dialog mit den Hauptinitiatoren der Proteste organisieren und Verhandlungen einleiten.
Zu den zentralen Forderungen gehört die, nach kostenloser und qualitativer Bildung, nach höheren Investitionen in diesen Bereich und einer Anhebung des Mindestlohns. Das Leben hier ist hart, wer keine stabile Lebensgrundlage hat, bekommt kaum eine Chance sich zu bilden und sich mit Dingen zu beschäftigen, die die Menschheit voranbringen. Nur privilegiertere Familien haben diese Möglichkeit, die anderen müssen arbeiten, um zu Leben.
Wer Kolumbien kennt, weiß dass die Menschen hier fröhlich sind und hart arbeiten, aber die Regierung ist uns keine Hilfe. Kolumbien ist wunderschön und hat viel Potential, gerade deswegen muss sich hier vieles ändern.
Jacobo (24)
Ich bin am Donnerstagmorgen gegen 8.30 Uhr zum Protestmarsch gegangen, und es war eine unglaubliche Erfahrung, zu sehen wie so viele Menschen auf der Straße zusammengekommen sind. Genauer gesagt so viele verschiedene Menschen. Von 12-jährigen Kindern über Jugendliche zwischen 18 und 25, bis hin zu Erwachsenen und sehr alten Menschen – wirklich alle möglichen Leute standen da auf der Straße. Und das großartige ist, dass es wirklich ein sehr friedlicher Protestmarsch war. Durch das Chaos, dass dann nachts in Cali herrschte, erscheint jetzt leider alles in einem schlechteren Licht.
Ich bin etwa fünf Kilometer bis ins Stadtzentrum mitgelaufen und es gab keine Randale, nichts Gewalttätiges oder sonst irgendetwas in diesem Stil. Tatsächlich haben sogar die Demonstrierenden selbst dafür gesorgt, dass keine Vermummten sich in den Marsch einreihen. Ungefähr auf der Höhe des Stadtzentrums wollte eine Gruppe vermummter Personen zu uns stoßen, sie sind aus dem nichts in Kapuzen aufgetaucht. Die Demonstrant*innen haben angefangen, Lärm zu machen und zu rufen: „Keine Kapuzen! Keine Kapuzen!“. Alle haben sich zusammengetan und es geschafft, sie von dem Protestmarsch fern zu halten.
Die Leute sind müde von der sozialen Ungleichheit, die in Kolumbien besteht. Sie verlangen lediglich ein Land, das die Augen aufmacht
Was man bei den Protesten hört und auf den Schildern liest, ist dass die Demonstrierenden für die Einhaltung des Friedensvertrages, zwischen der FARC und der Regierung kämpfen. Die Vereinbarungen werden mit Füßen getreten, sie werden praktisch torpediert. Bei einer militärischen Auseinandersetzung wurden 18 Kinder getötet und das wird nicht toleriert.
Zudem gibt es viele Beschwerden über die Qualität der öffentlichen Bildung, gegen die Studiengebühren und Proteste gegen die weitere Senkung der Renten und des Mindestlohns für unter 25-Jährige. Außerdem wird viel vom Thema Fracking gesprochen, davon, die Natur zu respektieren. Nein zu Fracking, nein zum illegalen Bergbau!
Die Leute sind müde von der sozialen Ungleichheit, die in Kolumbien besteht. Sie verlangen lediglich ein Land, das die Augen aufmacht, die Menschen sieht und auf ihre Bedürfnisse eingeht. Die Bürger*innen haben das Gefühl der Präsident sagt eine Sache und tut eine andere und das wird nun auf den Straßen spürbar.
Es existiert eine gigantische Empörung gegen die ESMAD. In sozialen Netzwerken sind viele Fälle von autoritärem Machtmissbrauch und exzessiver Gewalt gegen friedliche Demonstrant*innen bekannt geworden. Deswegen ist es wichtig fest zu halten, dass die Protestierenden friedlich und sehr divers waren. Zusammengefasst war es eine sehr schöne Erfahrung morgens auf den Marsch zu gehen, zusammen mit einer Vielzahl von Leuten, alle vereint in einer Stimme und in einem Gefühl.