Anfangs hatte ich Panikattacken, Angstzustände und Schlafprobleme. Als diese auf ihrem Höhepunkt waren konnte ich kaum noch öffentliche Verkehrsmittel nutzen. Sobald diese zu voll waren, bekam ich ein Gefühl von Angst und Beklemmung. Später konnte ich kaum noch etwas essen, ohne dass ich Magenschmerzen bekam. Besonders nachts musste ich sauer aufstoßen, mein Kehlkopf entzündete sich.
Deswegen suchte ich vor eineinhalb Jahren eine Psychologin auf, um mir Hilfe zu holen. Meine offizielle Diagnose lautet Anpassungsstörung mit depressiven Episoden. Neben Panikattacken und Schlafproblemen, die inzwischen so gut wie weg sind, gehört zu meiner Symptomatik auch Antriebslosigkeit. Manchmal fühlt es sich so an, als hätte ich Blei im Kopf und an den Beinen.
Ich kann damit inzwischen umgehen, bin aber immer noch in psychologischer Behandlung. In der Therapie habe ich viel über mich gelernt, besonders wie ich mit mir selbst achtsamer und empathischer umgehe. Was mich in letzter Zeit mehr nervt als die Krankheit, sind bestimmte Reaktionen aus meinem persönlichen Umfeld. Als dann Freund*innen von mir noch erfahren haben, dass ich Medikamente, also Antidepressiva, dagegen nehme, ging es erst richtig los. Eines Abends lag ich bei geöffneter Zimmertür im Bett und schaute einen Film. Meine Mitbewohnerin stellte sich mir gegenüber in den Flur und sagte aus dem Nichts: „Du solltest mal Kakaobohnen ausprobieren. Die sollen den Serotonin- und Dopaminspiegel nach oben treiben. Dann gehen bestimmt auch deine Depressionen weg und du musst keine Medikamente mehr vom Arzt nehmen.“ Zuerst wusste ich gar nicht was ich dazu sagen soll. Dann musste ich laut lachen und antworte ihr zynisch: „Danke für den Ratschlag. Hätte ich das mal vorher gewusst, dann wäre das bestimmt alles nicht passiert!“ Seitdem lautet mein Vorschlag bei diversen körperlichen und psychischen Beschwerden: „Hättest du bloß mal Kakaobohnen gegessen!“
Fast jede*r Dritte hat eine psychische Krankheit
Ich glaube, dass psychische Krankheiten in unserer Gesellschaft ein Tabuthema sind. Das liegt daran, dass sie nicht in unser Bild von einer Leistungsgesellschaft passen. Auf einmal sind Leute schwach, haben Angst, sind nicht sehr belastbar und können nicht die Leistungen erbringen, die von ihnen im kapitalistischen System erwartet werden. Laut einer Studie der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde leiden 27,8% der erwachsenen Bevölkerung zwischen 18 und 65 in Deutschland an einer behandlungsbedürftigen psychischen Krankheit. Also fast jede*r Dritte allein in dieser Altersspanne. Falls wir also nicht selbst betroffen sind, ist es sehr wahrscheinlich, dass wir jemandem im unseren Umfeld kennen, der darunter leidet. Egal ob wir davon wissen oder nicht.
Zudem erkranken doppelt so viele Frauen an Depressionen wie Männer. Bereits 1989 wiesen die Psycholog*innen Leppin und Schwarz auf den Zusammenhang von fehlendem sozialem Rückhalt und dem Auftreten von Depressionen hin. Besonders in familiären Strukturen sind Frauen für den sozialen Zusammenhalt zuständig. Sie gehen ebenfalls häufiger nicht anerkannter, unbezahlter oder schlecht bezahlter Care-Arbeit nach, zum Beispiel in der Familie oder als Krankenpflegerin. Dadurch sind Frauen häufiger von Armut betroffen. Zudem sind sie öfter häuslicher Gewalt ausgesetzt. „Re-empowerment!“ weist daraufhin, dass jede vierte Frau davon betroffen ist. Dass Frauen so viel häufiger von Depressionen betroffen sind, könnte also auch an unserer patriarchalen Gesellschaft liegen.
Wenn ich nicht aufhören kann, im Bett zu liegen und zu heulen, ist es wichtig, dass ich Hilfe bekomme
___STEADY_PAYWALL___
Von links kommt oft die Kritik an Psychotherapie und Antidepressiva, dass die nur Leute wieder fit machen sollen, um weiter im kapitalistischen System zu funktionieren. Ich finde es wichtig, zu reflektieren, was in unserer Gesellschaft als „krank“ und was als „gesund“ gilt und die sehr facettenreichen Ursachen für psychische Krankheiten zu verstehen. Aber als es mir richtig übel ging, war mir mit dieser linken Kritik erst mal wenig geholfen. Wenn es mir so schlecht geht, dass ich gar nichts mehr auf die Reihe bekomme, auch nicht mich mit Freund*innen zu treffen oder schlichtweg einfach aufzuhören im Bett zu liegen und zu heulen, dann ist es wichtig, dass ich Hilfe bekomme. Wenn es darum geht, dass ich wieder einen geregelten Alltag habe, geht es ebenfalls darum, welchen Job ich mache oder ob ich arbeiten gehe, da das ein essenzieller Bestandteil unserer Gesellschaft ist. In meiner Therapie ging es aber noch um sehr viel mehr: Genauer gesagt darum, mich selbst wertzuschätzen, obwohl meine Leistungsfähigkeit und Belastbarkeit gerade sehr eingeschränkt oder nicht vorhanden sind. Und obwohl alles immer weiter gesteigert werden kann und im Kapitalismus immer noch Luft nach oben ist, stolz darauf zu sein, dass ich es geschafft habe, einfach einen Spaziergang zu machen. Wenn ich ein gebrochenes Bein habe, dann werde ich ärztlich behandelt, da es sehr schmerzhaft ist und im schlimmsten Fall durch Infektionen tödlich enden kann. Genau, wie eine psychische Krankheit auch.
Obwohl psychische Krankheiten so häufig sind, wird wenig über solche Diagnosen gesprochen. Klar, dass viele Menschen in meinem Umfeld nicht wissen, wie sie damit umgehen sollen. Die Situation mit meiner Mitbewohnerin war nicht die einzige, in der mir Menschen aus meinem Umfeld kakaobohnenartige Tipps geben wollten. Neben tollen Vorschlägen wie: „Wenn es dir wieder schlecht geht umarme ich dich einfach, dann wird‘s schon besser“, sollte ich obendrein einfach meine Medikamente runter dosieren oder mich zusammenreißen. Teilweise empfinde ich das nicht mehr als gut gemeinten Rat, sondern als starke persönliche Bevormundung. Von einer Sekunde auf die andere, bin ich im gleichen Gespräch keine mündige Person mehr, die selbst entscheiden kann was sie braucht. Stattdessen werde ich behandelt wie ein kleines Kind, dass sich ein Bein gebrochen hat und das zum Arzt will – und die Erwachsenen kleben ein Pflaster drauf und behaupten: „Geht schon wieder!“.
Fragt mich doch einfach: „Warum nimmst du eigentlich diese Medikamente?“
Als Reaktion habe ich auch oft betretenes Schweigen erhalten, wenn ich Freund*innen von meiner Diagnose erzählt habe. Oft haben sie das gar nicht erwartet. Wenn die Personen von meiner Krankheit wussten und ich nur mal nach einem Treffen gefragt habe, kamen sehr schräge Absagen mit wahnsinnig vielen Entschuldigungen und die Frage ob denn etwas bestimmtes sei oder ich über etwas reden will. Die Intention dahinter war bestimmt nett gemeint. In dem Moment kam ich mir dennoch so vor, als würde ein blinkendes Reklameschild über mir schweben auf dem steht: „Achtung! Psychische Krankheit!“ Dabei bin ich doch mehr als nur eine Emotion oder eine Krankheit, wie jeder andere Mensch auch.
Mir geht es nicht darum, dass jede*r die perfekte Lösung oder den perfekten Umgang mit so einer Diagnose in seinem Umfeld findet, falls es so etwas überhaupt gibt. Es ist völlig okay, das unangenehm zu finden oder das Bedürfnis zu haben, jemandem helfen zu wollen. Solange psychische Krankheiten ein gesellschaftliches Tabuthema sind, wird man wohl kaum den Umgang damit in irgendeiner Form gelernt haben. Deswegen gibt es zum Beispiel Beratungsstellen für Angehörige von psychisch Kranken, die aufgesucht werden können.
Aber ich bin immer noch hier und ansprechbar, also kann man gerne mit mir reden. Das geht nicht jede*r betroffenen Person so, aber ich spreche hier mal für mich. Beispielsweise kann man einfach fragen: „Hey, wie ist das eigentlich mit deinen Medikamenten, warum nimmst du die? Kannst du mir das vielleicht erklären?“ oder „Ich weiß nicht so richtig wie ich damit umgehen soll, mir ist das irgendwie unangenehm.“ Wenn ein*e Freund*in mit Grippe im Bett liegt, frage ich ja auch: „Hey, brauchst du irgendwas? Soll ich dir ne Suppe ans Bett bringen?“ Nur, weil jemand psychisch krank ist, ermächtigt es nicht, über dessen Entscheidungen oder gleich die ganze Person zu urteilen. Sprecht lieber MIT den Betroffenen Personen oder Beratungsstellen als nur ÜBER sie, damit psychische Krankheiten endlich aus der Tabuzone geholt werden!