In meinem Umfeld tummeln sich Personen, die der Meinung sind, dass Psychotherapie nur dafür da ist, Menschen wieder fit für die Arbeit im Kapitalismus zu machen. Sie sagen, Psychotherapie sei schlecht, weil sie das kapitalistische System stützt und die kommunistische Revolution verhindert. Indem Menschen lernen ihre Probleme als Krankheit zu verstehen, machen sie keinen Ärger und wollen die Verhältnisse nicht umstürzen, die eigentlich für diese Probleme verantwortlich sind, so die Logik. Stattdessen pfeifen sich die Leute Psychopharmaka rein und bleiben brave Bürger*innen, die einmal die Woche zu ihrer Therapeutin gehen und fleißig an sich arbeiten. Ich sehe das anders.
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Ich arbeite als Psychologin in einer Suchtberatungsstelle für Frauen und als Therapeutin in einer Klinik und werde deshalb öfter mit dieser „linken“ Kritik an Psychotherapie konfrontiert. Ich muss zugeben, bevor ich praktisch gearbeitet habe, war auch ich der Meinung, dass Psychotherapie Menschen, die „ein bisschen anders“ sind, versucht wieder arbeitsfähig zu machen, weil „die Krankenkassen“ das sagen. Mittlerweile denke ich anders darüber. An meinen beiden Arbeitsstellen sehe ich ganz unterschiedliche Formen und Schweregrade psychischer Probleme: von Alkoholmissbrauch über Depression uns Psychosen bis hin zu Suizidalität. Was die allermeisten dieser Patient*innen gemeinsam haben ist, dass sie sich eher nicht in der nächsten Woche zusammenrotten und auf die Barrikaden steigen. Und das unabhängig davon, ob sie glauben, dass die kapitalistischen Umstände die meiste Schuld an ihren psychischen Problemen tragen oder nicht. Einige meiner Patient*innen sind sich nämlich durchaus bewusst, dass ihre Probleme nicht nur durch eine Stoffwechselstörung im Gehirn erklärt werden können. Trotzdem müssen Menschen mit psychischen Problemen ab einem bestimmten Schweregrad zunächst an dringenderen Problemen arbeiten, als an der Revolution. Und wenn Menschen eine Therapie oder auch Beratung aufsuchen, ist meine Erfahrung, dass ein erheblicher Schweregrad in der Regel bereits erreicht wurde. Diesen Punkt außer acht zu lassen, verharmlost die Ernsthaftigkeit psychischer Krankheiten. Insbesondere eine linke Kritik an Psychotherapie sollte nicht in diese Falle tappen.
Ich glaube, dieser Punkt wird manchmal nicht ernst genommen, weil Leute nicht vor Augen haben, was es heißt, sich in Zuständen zu befinden, in denen wirklich gar nichts mehr geht. Eine schwer depressive Person kann sich leider nichts davon kaufen, wenn sie zwar weiß, dass ihre Probleme meinetwegen ausschließlich mit dem Kapitalismus zu tun haben, aber trotzdem kaum aus dem Bett kommt. Möglicherweise zieht sie das sogar noch mehr runter, weil man gegen das System so aus dem Stegreif nun wirklich nichts unternehmen kann. Insbesondere, wenn man hauptsächlich damit beschäftigt ist, einen Tagesablauf hinzubekommen, der einer/m überhaupt erst ermöglicht, sich aktiv für irgendwas einzusetzen. Zum Beispiel dafür, was zu essen im Haus zu haben oder dem Paketboten die Tür zu öffnen. Damit will ich nicht sagen, dass das kapitalistische System nicht das Problem ist, natürlich ist es das, aber Therapie ist vor allem dafür zuständig, Leuten dabei zu helfen, einen Weg aus der größten Not zu finden. Nur darüber zu ranten, dass Psychotherapie den Leuten einredet, krank zu sein, um das System zu stützen, ohne wirklich an einer Debatte über Verbesserungen der Behandlung interessiert zu sein, finde ich deshalb zynisch. Vor allem, wenn dabei deutlich wird, dass Leute gar keinen Plan haben, was genau eigentlich Stand der Dinge in deutschen Psychiatrien oder psychotherapeutischen Praxen ist.
Meiner Erfahrung nach schließt Psychotherapie nämlich in sehr vielen Fällen mit ein, dass Patient*innen sich bewusst werden, dass die (kapitalistischen) Umstände einen großen Anteil an ihren Problemen tragen. Die meisten Leute, die in Therapie kommen, leben schon seit einer ganzen Weile in unserer Gesellschaft und haben die kapitalistischen Werte schon längst verinnerlicht. Therapie versagt möglicherweise darin, das für die Patient*innen sichtbar zu machen. Der Wunsch, wieder zu arbeiten ist einer, den sehr viele Patient*innen mir gegenüber äußern. Bisher habe ich trotzdem keiner einzigen Person geraten, dass sie einfach so lange früh aufstehen, Sport machen und mit mir labern soll, bis sie wieder arbeiten gehen kann und alles ist schick. Insbesondere bei Patient*innen, die eigentlich nur die Auswahl zwischen Pest und Cholera auf dem Arbeitsmarkt hatten, war eher das Gegenteil der Fall.
Sehr oft passiert es in der Therapie aus meiner Erfahrung das erste Mal, dass Leute überhaupt auf die Idee kommen, dass ihre Arbeitslosigkeit oder Krankschreibung nicht gleichbedeutend damit ist, krass verkackt zu haben und wertlos zu sein. Ich mache regelmäßig die Erfahrung, dass Menschen im Rahmen von Behandlungen realisieren, dass sie dem, was „die Gesellschaft“ verlangt, nicht gerecht werden können und dass das nicht an ihnen liegt. Bis vor Kurzem habe ich zum Beispiel eine Gruppe für abhängige Frauen* geleitet. Besonders in Erinnerung ist mir dieser Moment, wenn den Frauen* klar wurde: Eigentlich gönnt sich die ganze Gesellschaft Alkohol und Drogen, um irgendwie klarzukommen, aber wenn der Konsum außer Kontrolle gerät, ist man Abschaum. In diesen Gruppen wurde viel darüber diskutiert, dass in unserer Gesellschaft Vieles richtig kacke läuft und dass die, die dabei unter die Räder kommen, auch noch dafür verachtet werden. In diesen Gesprächen wurde den Frauen* klar, dass ihre Probleme zu großen Teilen an schlechten Arbeitsbedingungen, Arbeitslosigkeit, Armut, gewalttätigen Partnern oder rassistischer Diskriminierung liegen. Das heißt mit Sicherheit nicht, dass die alle morgen auf die Barrikaden springen, aber es ist ein erster Schritt in Richtung eines kritischen Bewusstseins und weg davon, sich selbst dafür zu hassen, in diesem System nicht zu funktionieren. Und es zeigt meiner Meinung nach das politische Potential von Psychotherapie, auch, wenn noch viel verbessert werden muss.
Bilke Schnibbe ist feministische Aktivistin und arbeitet als klinische Psychologin in Berlin. Sie schreibt unter anderem für „FICKO – Magazin für gute Sachen und gegen schlechte“ über Feminismus, Psychologie und in ihren Träumen auch über Schlagermusik.