Kurz vor Weihnachten sitze ich im ICE von Berlin nach Frankfurt am Main. Großstadtkids um mich herum reden über nervige, politische Diskussionen beim Abendessen, über Väter, die zu viel arbeiten und Mütter, die an Weihnachten tagelang kochen und gestresst sein werden. So oder so ähnlich. Ich denke daran, dass ich in diesem Jahr mit einem Studienabschluss in der Tasche ankommen werde, als erste in der Familie.
Der obligatorische Festtagsfamilien-Besuch schubst viele für einen kurzen Moment aus der selbstgewählten Komfortzone, vor allem diejenigen, die sich sonst hauptsächlich in queeren Bars rumtreiben und sich mit anderen jungen, linken, aber dennoch aufstrebenden Intellektuellen umgeben. Was es allerdings bedeutet, aus diesem Umfeld zurück in ein nicht-akademisches und nicht-deutsches Elternhaus zu fahren, darüber wird kaum gesprochen und noch weniger geschrieben: Es ist, wie in eine andere Welt katapultiert zu werden.
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Die Erste mit einem Studienabschluss
Über Jahre habe ich versucht, so „deutsch“ wie möglich zu sein, mich von meinen Eltern und allem Russlanddeutschen abzugrenzen. Ich war ziemlich erfolgreich darin. Wenn ich nicht aktiv darüber sprechen würde, würde mir in Berlin wohl niemand meine Migrationsgeschichte ansehen. Ich bin weiß und habe einen deutschen Nachnamen, einen Bachelor und vieles gelesen, was man lesen muss, um schlau zu klingen. Aber wenn die Menschen in meinem Umfeld über ihre Kindheit in deutschen Akademiker*innenfamilien sprechen, dann weiß ich, dass ich mir nichts vormachen muss, dass wir sehr unterschiedliche Backgrounds haben und dass das auch immer so bleiben wird. Und, dass ich mich damit auseinandersetzen muss, was das mit mir macht.
Auf Gleis 20 am Frankfurter Hauptbahnhof verabschiede ich mich für ein paar Tage von meinem gewohnten Umfeld. Ich steige in eine Bimmelbahn Richtung Westen, ab Mainz kommen nur noch Käffer und es wird ein Dialekt gesprochen, den ich oft versucht habe zu imitieren, aber nie richtig gelernt habe. In einem dieser Käffer mit diesem Dialekt leben meine Eltern.
Erkennen mich die Leute im Dorf noch als das „Russenkind“?
Als ich ein Kind war, waren wir eine von zwei russlanddeutschen Familien in dem kleinen Dorf in Rheinlandpfalz. Andere Migrant*innen gab es nicht, selbst Deutsche, die aus einem Nachbardorf kamen, blieben noch über Jahre nur „Zugezogene“. Wir waren eine Bubble in der Bubble, eine mini-migrantische Community innerhalb der konservativen Dorfstrukturen. Wenn ich heute die Hauptstraße entlanglaufe, auf der ich als Kind Fahrradfahren gelernt habe, zähle ich die Deutschlandfahnen. Es sind viele, und zwar die, mit dem fetten Adler drauf. Das ist eine Ansage. Ich frage mich, wie meine Eltern noch immer hier wohnen können und wer mich noch erkennt, wer das „Russenkind“ noch erkennt, das jetzt kurze Haare, große Creolen und bunte Sneakers trägt.
Meine Eltern wohnen mittlerweile nicht mehr auf der Hauptstraße im Ortskern, sondern in einem Neubaugebiet am Dorfrand, unter anderen Russlanddeutschen, einige davon sind Verwandte. Die „Einheimischen“ haben sich jahrelang darüber aufgeregt, wie es denn sein könne, dass „die“ alle hierherkamen, die Sozialkassen plünderten und sich dann, nach gerade mal zehn Jahren in Deutschland, ihre fetten Familienpaläste bauten.
Ich komme also aus meiner Berliner WG in diesem Haus im Neubaugebiet an. Über zwei Jahre haben sich meine Eltern hier Wochenende für Wochenende und jeden Abend nach der Lohnarbeit abgerackert, alles in Eigenarbeit: Drei Stockwerke, eine Wohnung für mich plus Familie, eine für meinen Bruder plus Familie, eine für sie selbst im Rentenalter. Seit wir beide zum Studieren ausgezogen sind, er nach München, ich nach Berlin, und meine Großeltern verstorben sind, wohnen sie zu zweit in dem viel zu großen Haus. Ich glaube, ihnen ist mittlerweile bewusst, dass wir nicht zurückkommen werden.
Scheiße, selbst meine Eltern haben schon bemerkt, dass aus mir ein Yuppie geworden ist.
In der Obstschale auf dem Küchentisch liegen zwei Avocados und ein Stück Ingwer. Ich weiß, dass meine Mutter das extra für mich eingekauft hat, weil sie sich Sorgen macht, dass es mir bei ihnen immer an etwas fehlt. Wahrscheinlich habe mich in der Vergangenheit oft genug über das fleischige russische Essen beschwert. Ich esse also ein Avocadobrot und koche Ingwertee und denke: „Scheiße, selbst meine Eltern haben schon bemerkt, dass aus mir ein Yuppie geworden ist.“
Meine Mutter fragt, was es an Heiligabend geben soll: „Vielleicht mal was Deutsches? Klöße oder was die so essen?“ So weit haben wir sie also schon gebracht…Ich überlege, ob ich ansprechen soll, dass ich letztens in Berlin Friedrichshain ein russisches Restaurant entdeckt habe und wie mir das Herz beim Anblick der Speisekarte und der Deko aufgegangen ist: Piroschki und Wareniki, Sowjetkitsch und Fotodrucke der sibirischen Taiga. Eigentlich will ich Borschtsch essen, so richtig, mit Fleisch. Ich habe Lust, mich in die Momente meiner Kindheit zurückzuversetzen und mich an die vielen Dinge zu erinnern, die ich über so lange Zeit verdrängt habe. Das ist neu. Bisher waren meine Eltern von mir eigentlich nur Ablehnung gewöhnt, wenn es um unsere Herkunft ging. Diese positive Bezugnahme kennen sie nicht von mir.
Im Sommer habe ich auf unserer Datscha „Der Russe ist einer, der Birken liebt“ von Olga Grjasnowa gelesen, um mich mit meiner russischen Identität auseinanderzusetzen und vielleicht sogar anzufreunden. Vor zwei Jahren las ich in meinem alten Kinderzimmer „Rückkehr nach Reims“ von Didier Eribon, in diesem Jahr an Weihnachten das „Ende von Eddy“ von Édouard Louis – Bücher, die das Erleben von Klassismus und die Kluft zwischen zwei scheinbar nicht zu vereinenden Welten thematisieren.
Aus dir ist ja doch noch eine Frau geworden
Und dann klappe ich ein solches Buch zu, setze ich mich zu meinen Eltern aufs Sofa und fühle mich wie eine Anthropologin bei einer Feldforschung. Ich würde dann unglaublich gerne mit ihnen teilen, warum ich mich mit Eribon identifizieren kann, warum es mich berührt zu merken, dass ich nicht allein bin mit meinen Erfahrungen. Aber es fällt mir schwer, die richtigen Worte zu finden, um nicht schon wieder abgehoben oder vorwurfsvoll zu klingen und immer nur auf einer Metaebene „über“ meine Eltern zu sprechen, anstatt mit ihnen. In meinem Umfeld in Berlin rege ich mich ständig über den kartoffeligen Akademiker*innensprech auf. Bei meinen Eltern merke ich, dass ich genauso bin, fast zumindest. Einfache Sprache, das muss ich erst wieder lernen, nachdem ich mir über Jahre einen intellektuellen Wortschatz antrainiert habe. Das ist vermutlich das Schwierigste: keine gemeinsame Sprache mehr zu haben, mit der man Verständnis füreinander schaffen könnte. Aber es wird besser.
Beim Zusammentreffen mit der riesigen Verwandtschaft an den weiteren Weihnachtsfeiertagen weiß ich schon im Vorhinein, was ich zu hören bekommen werde: Die Frage, wann ich die erste russlanddeutsche Bundeskanzlerin werde, begleitet mich, seit ich mein Studium der Politikwissenschaften begonnen habe. Außerdem bin ich mittlerweile 24, langsam muss ich doch mal heiraten… Wie soll ich ihnen erzählen, dass ich gerade dabei bin, meine offene Beziehung neu zu sortieren?
Ich trage in diesem Jahr roten Lippenstift, irgendwie habe ich keine Lust mehr Jahr für Jahr mit meiner „unschicken“ und „unweiblichen“ Kleidung für Skandale zu sorgen. Und tatsächlich klappt das ziemlich gut. Alle meine Tanten sind zufrieden: „Aus dir ist ja doch noch eine Frau geworden“. Das war easy. Über alles andere, was ich eigentlich gerade so mache und wie es mir geht, was meine Träume und Wünsche sind, darüber sprechen wir nicht. Ich frage sie auch nicht wirklich. Unsere Lebensrealitäten überschneiden sich nur noch zu diesen seltenen Gelegenheiten am gedeckten Tisch bei Familienfesten.
Alles was ich jetzt habe, werde ich nie mit meinen Eltern teilen können.
Als ich am 27. Dezember wieder in der Bimmelbahn Richtung Frankfurt sitze, bin ich erleichtert, zurück nach Berlin zu fahren. Gleichzeitig stimmt mich diese Fahrt immer wieder melancholisch, denn mir wird bewusst, dass ich nicht nur viele Streckenabschnitte der Deutschen Bahn hinter mir zurücklasse, sondern einen mir vorgezeichneten Lebensentwurf, von dem ich mich bereits sehr früh verabschiedet habe. Alles was ich jetzt habe, meinen Zugang zu Bildung und zu sozialem Kapital, das werde ich nie mit meinen Eltern teilen können.
Am Frankfurter Hauptbahnhof steige ich in den ICE. Großstadtmenschen in dunklen Rollkragenpullis sind gestresst und streiten sich lautstark darüber, wer welchen Platz reserviert hat. Ich bin also wieder so richtig in Deutschland. Ich ziehe meine Kopfhörer an und höre SXTN „Ihr seid Bonzenkids, ihr wart noch niemals broke, niemals broke“. In wenigen Stunden bin ich wieder in meinem Berlin.