Ruhig ist es am Sonntagmittag in der Lübecker Clemensstraße. Die enge Gasse wirkt fast wie ein ganz eigener, kleiner Kiez nur einen Katzensprung von Bahnhof und der Fußgänger*innenzone entfernt. Hier reiht sich eine kleine Kneipe an die nächste, die Häuser sind bunt und verschnörkelt, an den Wänden finden sich Graffitis. Die Menschen auf der Straße unterhalten sich. Man kennt ist, miteinander befreundet.
Mit dem anarchistischen Schicksaal-Kollektiv reihen sich nun neue Freund*innen in die engen Häuser der Clemensstraße ein. Bereits vor zwei Jahren haben sie das damals völlig heruntergekommene Haus unter anderem mit Hilfe des Mietshäusersyndikats und verschiedenen Direktkrediten gekauft. Seitdem arbeiten die acht Kollektivist*innen hart daran, ihr Ziel zu verwirklichen: ein kollektivbetriebenes Hostel mit Kneipe und Café.
“Die ganze Straße war voll mit Leuten”, erzählt ein Kollektivist auf der Straße, als er freudestrahlend über das vergangene Eröffnungswochenende spricht. Nach einer langen Bauphase konnten sich Interessierte einen ersten Eindruck machen: Das Schicksaal-Hostel feierte mit vielen Freund*innen seine Eröffnung. Mit Konzerten, einer Kabarett-Show und politischen Vorträgen.
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“Uns ist wichtig, dass dieser Ort ein politischer Raum ist”, sagt der 48-jährige Ralf aus dem Schicksaal-Kollektiv. Und das in jeder Hinsicht. Der Veranstaltungsraum soll mit politischen Inhalten gefüllt werden. Vorträge, Workshops und Diskussionen sind geplant. Die Speisen im Bistro sind fleischfrei und aus nachhaltiger Landwirtschaft, andere Kollektivbetriebe sollen unterstützt werden. Politische Inhalte sollen den Gästen aber nicht aufgezwungen werden. Das etwas andere Hostel will seine Ideen vorleben und sie “mit auf die Reise nehmen”, scherzt Ralf.
Arbeit ohne Chefs und Profitinteressen
Auch unter der Oberfläche wird klar, dass dies kein herkömmlicher Arbeitsplatz ist: Das anarchistische Kollektiv organisiert sich in Plena und handelt nach dem Konsensprinzip. Hier gibt es weder Chef, noch genaue Positionen. Alle können alles machen – müssen sie aber nicht. “Wer große Schwierigkeiten hat, morgens um sechs aufzustehen, der macht dann eben kein Frühstück, sondern etwas anderes”, erklärt Ralf. Anders als ein üblicher Betrieb, strebt das Hostel keine Gewinnmaximierung an. Die Kollektivist*innen wollen sich lediglich selbst für ihre Arbeit fair entlohnen, überschüssiges Geld soll an andere solidarische Projekte gespendet werden. Die Entlohnung der Mitarbeiter*innen erfolgt nach dem Bedarfsprinzip: Was brauche ich? Und was bin ich bereit, dafür an Arbeit hier reinzustecken? Ralf sagt, dass man aufpassen müsse, sich nicht selber auszubeuten. Für ihn persönlich sei das mit der Entlohnung allerdings sowieso anders, als in seinen vorherigen Jobs. Der Wohlfühlfaktor auf der Arbeit soll dem in der Freizeit gleichgestellt sein. Hier soll alles freiwillig passieren.
Das nicht jede*r jeden Tag die Arbeit machen kann, die ihm oder ihr am Liebsten ist, ist klar. Verschiedene Leute hätten verschiedene Vorlieben, erklärt die 30-jährige Svanni, die neu im Kollektiv ist und mit ihrer Crust-Punk-Band bei der Eröffnung spielte. Das würde dabei helfen, eine angenehme Arbeitsverteilung zu schaffen. Sie übernehme zum Beispiel gerne den sonntäglichen Brunch und sei bereit, dafür auch mal auf die ein oder andere Party zu verzichten. “Ich glaube, es wird einfach nicht passieren, dass mal gar keiner oder viel zu wenige arbeiten wollen”, sagt sie. Und das Kollektiv soll auch noch wachsen. Ein gutes Arbeitsumfeld, die Tatsache, dass alle aufeinander achten und es niemanden gibt, der über die anderen bestimmt, motiviere sie. Das Wichtigste hierbei sei eine offene Kommunikation. Im Plenum spräche das Kollektiv vertrauens- und rücksichtsvoll über solche Themen. Auch im Bezug auf Geschlechterrollen bei der Arbeitsverteilung seien alle sehr achtsam, versichert sie. “Wenn da ein Ungleichgewicht entsteht, ist es wichtig, dass wir das kritisch reflektieren und es ist ganz wichtig, das zu hinterfragen”.
Der laufende Betrieb hat gerade erst gestartet. Wie all diese positiven Vorsätze in der Zukunft funktionieren, wird sich zeigen. In der Bauphase hat das Kollektiv es gerade zum Ende hin nicht immer geschafft, sein Ziel von einer Arbeitswoche mit höchstens dreißig Stunden einzuhalten. “Was in solchen Situationen motiviert, ist zu wissen, dass es nur temporär ist”, sagt Svanni.
Auch Vernetzung mit anderen politischen Projekten in Lübeck und Nachbarschaftsarbeit innerhalb der Straße ist dem Kollektiv wichtig. Eine gute Stimmung soll in der Clemensstraße herrschen, für die sich das Kollektiv bewusst entschieden hat. Es sei eine besondere Straße in Lübeck. So haben sie sofort gehandelt, als die Möglichkeit bestand, mit dem Projekt in die Hausnummer sieben der kleinen Straße zu ziehen.
Auch nach dem Kauf des eine halbe Millionen Euro teuren Hauses blieb das Kollektiv zielstrebig: Mit Hilfe von außerhalb und viel eigener Handkraft haben sie das Haus, das sich bis dato in einem nicht besonders guten Zustand befand, wieder hergerichtet. Beim Sanieren und Renovieren ist Skill-Sharing angesagt. Nicht alle aus dem Kollektiv haben einen handwerklichen Background: Ralf ist gelernter Erzieher, Svanni hat in der Vergangenheit im Marketingbereich gearbeitet. Auch die anderen kommen aus anderen Branchen.
Offen für alle
46 Betten sollten entstehen, einige der Zwei- bis Zehnbettzimmer sind bereits fertig, andere noch nicht. Dabei ist jedes Zimmer eine Überraschung: Jede und jeder aus dem Kollektiv hat ein eigenes Zimmer gestaltet. So finden sich selbstgebaute Holzregale in einem Zimmer, dahinter grün-gelb bemalte Wände. In einem anderen ein Vintage-Sessel, kleine Massivholztischchen, ein Hochbett. Rosa kacheln schmücken die Wände der selbstgebauten Küche, ein alter Telefonhörer ist die neue Türklinke im Badezimmer. Im Café sind gemütliche Sofaecken, grünes Licht, in einem anderen Raum ein Kronleuchter. Wie in einem typischen linken Projekt sieht es hier nicht aus. In einigen linken Kreise gäbe es eine Hemmschwelle, dort überhaupt hinzugehen, sagt Ralf. Das Schicksaal-Hostel möchte für jeden offen sein.
Spätestens ab Juni will das Hostel seine ersten Gäste aufnehmen, Café und Kneipe sind bereits seit der Eröffnung bespielt. Wer in der Nähe wohnt oder nur mal im Projekt vorbeischauen möchte, ist herzlich eingeladen, einfach auf einen Kaffee vorbei zu kommen. Auch eine Küche für alle soll in der nächsten Zeit entstehen. Und auch, wenn jemand kein Geld hat, verhält es sich, wie in vielen anderen anarchistischen Projekten – wenn du statt 2,50€ nur noch einen Euro für einen Kaffee übrig hast: Dann kriegst du trotzdem einen Kaffee.