Es fing, wie alles, recht harmlos an. Das erste Mal fiel es mir im Sommer vor zwei, drei Jahren auf. Da hatten sich 50 bis 100 Jungs hier im Park angesiedelt und angefangen, Gras zu verkaufen. Vorher gab es auch Gras im Viertel, wie es auch alle anderen Drogen gab und gibt, aber sie wurden nicht so offen auf der Straße verkauft. Das war kein wirkliches Problem – zumindest für die Parkbesucher und Anwohner. Es war überschaubar. Die Jungs hatten unser Mitgefühl. Viele von ihnen kamen aus zerrütteten Verhältnissen, waren auch meist friedlich, hielten sich an ein paar Regeln, blieben von den Spielplätzen weg, quatschten keine Jugendlichen an, sowas.
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Jetzt gab es nur noch Dog eat Dog. Kleindealer und Kleinstdealer. Hierarchien. Fuck-you-pay-me-Mentalität. Raubtierkapitalismus. Dschungel.
Bisschen Gras im Park. Irgendwie gehört das sogar zu so einer Großstadt dazu. Aber dann wurden es mehr und mehr Dealer. 100 bis 200 vielleicht. Das Problem war, dass es nicht so viel mehr Konsumenten gab. Spätestens als die Nachfrage nicht proportional zum Angebot stieg, kippte die Stimmung. Aber nicht nur deshalb, sondern auch, weil die Jahre auf der Straße niemanden zu einer sanfteren Person machen. War es vorher ein bisschen Gras verchecken, bis sich eine neue Option auftat, so war jetzt endgültig die Message angekommen, nicht willkommen zu sein. Das Dealerdasein war zur Endstation geworden. Sie waren angekommen. Die Hoffnung auf eine bessere Zukunft lag in einer dieser kleinen Plastiktüten, die sie in den Büschen versteckt hatten und ließ sich nicht wiederfinden. Und dann wurden es noch mal mehr. Noch mal 100 vielleicht. Und unter den Neuen gab es jetzt Jungs auf der Straße, für die es nie eine andere Option gegeben hatte. Jungs, die durch sämtliche Raster gefallen waren, Jungs, die selbst konsumierten. Hart konsumierten. Täglich konsumierten. Jungs, die eine neue Gewalt mitbrachten, eine andere Frustration. Finstere, zornige Jungs kamen. Jungs, die nicht mehr nur ein bisschen Gras im Park verkaufen wollten. Jungs, die Passanten abzogen, ausraubten, aufeinander einstachen. Es gab sexuelle Gewalttaten und einmal schmissen sie auch jemanden vor die U-Bahn und töteten ihn. Und es ging nicht mehr um den Park. Jetzt ging es um die Straßen und U-Bahn-Haltestellen. Jetzt gab es Prügeleien um Hauseingänge. Nicht nötig zu sagen, dass es – falls es je so war – nicht mehr „die Jungs“, also eine überschaubare Gruppe waren, die sich untereinander vielleicht sogar kannten und eine Verbindlichkeit, eine minimale Verantwortung dem Anderen gegenüber, mitbrachten. So was wie: Wenn ich jetzt einen Großeinsatz provoziere, bringe ich die Anderen auch in Gefahr. Nein. Jetzt gab es nur noch Dog eat Dog. Kleindealer und Kleinstdealer. Hierarchien. Fuck-you-pay-me-Mentalität. Raubtierkapitalismus. Dschungel.
Manchmal denke ich, unser Viertel wurde gehijacked. Aber nicht von den Gras-Dealern im Park. Nicht von den Antänzern und H-Dealern am Kotti. Wir waren kein gottesfürchtiges Dorf in der weiten Prärie, das von Banditen überfallen und terrorisiert wurde wie in alten Cowboyfilmen. Es ist nicht so wie beim eindringenden Virus in den heilen Körper. Es ist nur so, dass wir kein Immunsystem zu haben scheinen. Keine Ideen der Abwehr. Keine Mittel der Bindung. Nur eine bedingungslose Solidarität auf der einen und – noch recht leise – Law & Order-Rufe auf der anderen Seite. Aber nichts dazwischen. Rein gar nichts.
Es ist eine Scheindebatte, in der Sicherheit oder auch das einfache Bedürfnis, angstfrei U-Bahnfahren können, etwas Konservatives, vielleicht sogar Rechtes ist
Ich habe das Gefühl, dass wir uns da selbst hijacken. Weil wir nur noch reagieren. Wir haben es nicht geschafft, eine halbwegs ethische und auch praktikable Lösung auf die Straße zu bringen. Dass wir Identitäts- und Zugehörigkeitspolitik betreiben, statt Lösungen zu finden, macht es nicht besser. Und, dass wir nicht nur unser Viertel, sondern auch die Jungs verfeuern für eine Scheindebatte, in der wir uns hauptsächlich selbst bestätigen, wie linientreu wir uns an etwas halten, das mal ein liberaler Konsens war, auch nicht. Es ist eine Scheindebatte, in der Sicherheit oder auch das einfache Bedürfnis, angstfrei U-Bahn fahren zu können, etwas Konservatives, vielleicht sogar Rechtes ist. Und genau so arbeiten und denken wir an der Realität vorbei.
Ich bin ein Anwohner. Das ist aber nicht der Punkt. Ich will nicht die Betroffenheitskarte spielen. Sie ist ohnehin wertlos. Dass ich über Fixerbesteck und gelegentlich auch über Fixer selbst steigen muss, um aus dem Haus zu gehen, macht mich nicht zum Experten. Unmittelbarkeit macht nichts wahrer. Ich schreibe das hier, weil ich gelangweilt bin und genervt von der Vorausschaubarkeit. Die Grünen, die Liberalen, alle langweilen mit ihren Gremien, mit ihrer Exklusivität, ihrer Kreuzbergversion des „mia san mia“, mit ihren Schablonen, ihrer Deutungshoheit und ihrem stumpf umgedrehten Rassismus, ihren naiven Sympathien und ihrer Ideenlosigkeit. Mit ihren rosafarbenen Kästchen, die sie im Park auf den Boden gesprüht haben, in denen das Dealen geduldet wird. Wie weit muss man sich da verrannt haben, damit man wirklich auf so eine Idee kommt, um sich bundesweit zum Spott zu machen? Wann, in welchem Kreis wurde das bitte besprochen und abgestimmt? Die alten Kreuzberger nerven mit ihrer Veteranenhaltung darüber, wie hart es früher war und dass das alles ja gar nichts sei im Vergleich zu damals. Als wäre ihre verschwommene Erinnerung das Maß der Dinge. Als müsste alles erst schlimmer werden, bevor wir anderen besser leben wollen dürfen.
Meine Generation langweilt. Die Hipster und wie sie es sich gemütlich gemacht haben in der Lebensqualität einer Welt, in der die U8 schon immer egal war
Mich nerven die Dealer, denen nichts Besseres einfällt als zu dealen. Ich meine, es könnte doch auch einer auf die Idee kommen, was anderes zu verkaufen als die zwanzig anderen, die direkt um ihn herumstehen. Flaschenbier. Glühwein. Irgendwas. Sich dreißig Meter weiter wegstellen und belegte Brote verkaufen. Oder sich eine Polaroid um den Hals hängen und durch die Bars ziehen. Oder wie in L.A. am Straßenrand einzelne Orangen verkaufen für 50 Cent. Was weiß ich. Aber nein, es müssen Drogen sein. Ich habe Schwarze Freunde, die den Park meiden, weil jeder dort denkt, sie wären Dealer.
Meine Generation langweilt. Die Hipster und wie sie es sich gemütlich gemacht haben in der Lebensqualität einer Welt, in der die U8 schon immer egal war. Die Jungstar langweilen, die hier ihre Ghetto-Safari haben. Die alten Immigranten langweilen, deren Partizipation an dem Viertel in keinem Verhältnis zu ihrer demografischen Größe steht und ihre Vorstellung, dass alles von oben kommt und ausschließlich ausgehalten werden muss.
Neulich passierte etwas am Görli, das von seiner Sinnbildlichkeit so in your face war, dass ich es hätte erfinden müssen, wäre es nicht tatsächlich genau so passiert. Es war ein Freitagabend, die Straßen voll und wie so oft gab es eine Massenschlägerei zwischen den Dealergangs am Görlitzer Bahnhof. Mit Eisenstangen und Flaschen gingen sie aufeinander los. Jagten einander, schrien und hetzten, bewarfen einander mit Flaschen und Pflastersteinen. Drumherum business as usual mit `bisschen gucken und Abstand. Oben vom Bahnsteig eine Gruppe weißer Jugendlicher, die ihr Ghetto-Kino präsentiert bekamen, die johlten und die Situation befeuerten als die Polizei mit Blaulicht (zwei Streifenwagen, ein Zivi) einbog. Zum ersten Mal in fast zwanzig Jahren Kreuzberg dachte ich, dabei gewesen zu sein, wenn die Polizei einmal pünktlich kommt. Entweder das oder die Schlägerei geht schon seit 45 Minuten, dachte ich. Ich lag mit beidem falsch. Die Wagen fuhren durch die Jungs durch zu dem Einsatzort, zu dem sie eigentlich unterwegs waren. Keine Zeit für den Krieg. Irgendwo in der Gegend muss es noch heftiger gebrannt haben. Zeitgleich waren die Dealer kurz vom Blaulicht aufgeschreckt und hatten sich verteilt. Sie sammelten sich, nachdem die Wagen weg waren wieder und formierten sich zum nächsten Angriff. Keine zehn Sekunden später flog die nächste Flasche. Unter Jubel der Kids aus der Loge.
Zu verstehen, dass die Solidarität mit dem Geflüchteten im Widerspruch zu der Solidarität mit dem Dealer steht
Und natürlich nervt es, dass die Rechten unser Viertel als eine Art failed state zur Schau tragen. „Pegida München“ kam extra hierher, um im Park zu demonstrieren und uns als abschreckendes Beispiel vorzuführen. Aber am meisten verärgert und nervt die Vorhersehbarkeit von all dem. Dass das alles schon so oft woanders passiert ist und wir uns dennoch weigern, uns umzuschauen. Und wie sich das Viertel progressiv gibt, aber nichts anzubieten hat, als das, was schon immer war. Es nervt, dass wir uns so einzigartig vorkommen und jeder Vergleich sich verbittet. Unsere Arroganz nervt mich. Dabei könnten wir einiges tun. Angefangen damit, unsere Drogen nicht mehr dort zu beschaffen. Zu verstehen, dass die Solidarität mit Geflüchteten im Widerspruch zu der Solidarität mit Dealern steht. Zu verstehen, dass das Dealen die Distanz zwischen den Jungs und diesem Land vergrößert und, dass das Dulden des Drogenhandels die zynische Fortsetzung der Duldungen ist, mit der die Geflüchteten im Quartalsrhythmus gepeinigt werden. Das Dealen gefährdet schließlich ihren Aufenthaltsstatus, ihre Gesundheit und bietet keinerlei Perspektive und keine Chance, außerhalb des vom Misstrauen geprägten Dealer-Konsumenten-Verhältnisses, Anschluss zu finden, Selbstwertgefühl zu entwickeln oder auch mehr zu lernen als Dealerdeutsch,
Wir werden nicht alle, vielleicht nicht mal viele retten können, aber wir werden neue Türen aufmachen und vielleicht gehen die, die noch kommen werden, eher durch sie hindurch. Vielleicht sogar, bevor sie in der Romantik und Ästhetik des Gangster-Daseins verschwinden. Bevor aus Dealen eine Dealerkultur wird und sie die Codes, den Kleidungsstil, die Gestik, den Gang und die Attitude haben, die sie aus den Staaten kennen. Und die Jungs laufen in die offenen Messer, die hier für sie bereit stehen, das ist offensichtlich.
Stellen wir eine mobile Wache am Kotti auf, stören wir die Hit and Run Taktik
Wir sollten das Dealen erschweren und zusehen, dass das Antanzen nicht der einzige Kontakt bleibt, den sie mit uns haben. Stellen wir eine mobile Wache am Kotti auf, stören wir die Hit and Run Taktik, das Wissen darüber, dass man 15 Minuten nach jeder Straftat hat, um zu verschwinden. Leuchten wir die Wege und Straßen um den Park besser aus. Und warum wird der Kotti nicht täglich gereinigt? Wie in Barcelona. Nicht wegen der Dealer, sondern einfach, weil so viele Menschen sich dort bewegen, deren Umgang mit dem Ort selbst nachlässig ist. Und zum Park selbst: Ich verstehe tatsächlich sogar, was die Bezirksbürgermeisterin Monika Herrmann meint, wenn sie innerstädtische Parks als Orte sieht, wo man nachts nicht hingehen sollte. Aber dann soll es keiner. Also auch die Dealer nicht. Dann machen wir den Park nach Einbruch der Dunkelheit zu. Wir lassen zwei, drei Wege offen, damit man nicht um den Park herumfahren muss, wenn man auf die andere Seite will, aber die Versteck- und Fluchtmöglichkeiten dennoch nicht mehr da sind.
Die neuralgischen Punkte der Stadt müssen sicher sein. Das alles ist Symptombekämpfung, das ist mir bewusst. Es löst nicht den Neoliberalismus oder den Neokolonialismus auf, verbessert nicht die einseitigen Handelsbeziehungen, mit denen Europa Afrika aussaugt und die Jungs diese traumatisierende Reise auf sich nehmen lässt, damit sie dann hier vorm vollen Napf verhungern. Aber der Kapitalismus fällt auch nicht in sich zusammen, weil man es den Jungs ermöglicht, sich für 30 Euro am Tag gegenseitig abzustechen. Es ist Symptombekämpfung wie Fiebersenkmittel. Manchmal eben notwendig, vor allem, wenn es das ermöglicht, was ihnen hier von Tag eins an verwehrt wurde: anzukommen.