„Als mir meine Kolleginnen sagten, ich solle mich nicht so anstellen, dachte ich: so kann das nicht bleiben“, erzählt Mira während eines Video-Gesprächs. Sie spricht schnell: Vieles möchte sie erzählen, das sonst meistens nicht gehört wird. Täglich ist die 25-Jährige als medizinische Fachangestellte in einem norddeutschen Krankenhaus sexualisierter Gewalt ausgesetzt: Patienten streifen beim Blutdruckmessen ‚aus Versehen‘ ihre Brüste, kommentieren ihren Po oder werfen ihr anzügliche Blicke zu. Wenn sie sich beschwert, stößt sie meist auf Unverständnis. Damit ist sie nicht alleine: etwa zwei Drittel der in der Pflege arbeitenden Frauen erfahren jährlich sexualisierte Gewalt.
Mira glaubt, das läge auch an der Sexualisierung der Gesundheitsberufe. Wir alle kennen das Bild der sexy Krankenschwester, die kurzen, weiß-roten Kleider und Häubchen, die zu Karneval oder Halloween aus den Schränken geholt werden. Wegen dieser Sexualisierung nähmen Patienten Mitarbeitende im Pflegeberuf nicht als Autorität wahr, glaubt Mira. „Das finde ich so absurd, weil eigentlich der Patient etwas von mir möchte und dementsprechend das Machtverhältnis andersherum sein müsste. Ich bin also nicht seine Süße und nicht seine Kleine“, sagt Mira wütend. Aber genau das ist der Punkt: Während in patriarchal strukturierten Gesellschaften der Mann immer die Machtposition innehat, kehrt sich das Verhältnis in einer solchen Situation um. Ein sexualisierter Übergriff ist als Form der Machtdemonstration dementsprechend ein Mittel, das gewohnte Machtverhältnis wiederherzustellen.
Die Corona-Pandemie hat einmal mehr gezeigt, wie wenig Pflegefachkräfte wertgeschätzt werden. Während wir sie letztes Jahr noch beklatschten, wird dieses Jahr bereits deutlich: es tut sich nichts. Die Bezahlung ist schlecht für die harte Arbeit, das Stresslevel hoch. In nahezu jedem Bundesland muss von einem akuten Fachkräftemangel sprechen. Aber ein Aspekt der schwierigen Arbeitsbedingungen bleibt noch immer oft unbenannt: Struktureller Sexismus.
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Denn es geht um noch andere Sachen als Übergriffe. Pflege fällt in den Bereich der Care-Arbeit – und mit der Anerkennung dieser als tatsächliche Arbeit oder Leistung tun wir uns gesamtgesellschaftlich generell schwer. Mira etwa wechselt in ihrem Job Verbände, nimmt Blut ab und erkennt Notfälle. Ihre Arbeit ist also unerlässlich für den Klinikbetrieb und die angemessene Behandlung von Patient:innen. Genauso wie jeder andere nicht-akademische Beruf im Gesundheitswesen.
Aber es wird noch immer erwartet, dass Care-Arbeit aus Selbstlosigkeit, Nächstenliebe oder bloßem Altruismus verrichtet wird und dementsprechend nicht angemessen entlohnt werden muss. Gleichzeitig geht diese Vorstellung Hand in Hand mit einer Weiblichkeitsvorstellung, die Frauen stereotyp auf Häuslichkeit und Mutterschaft zurückbindet. Auch deshalb sind noch immer 84 Prozent der Personen, die einen nichtakademischen Gesundheitsberuf, also Ärzt:innen ausgenommen, erlernen, Frauen.
Sexistische Ärzte
Alles, was vor, während, oder nach einer Operation geschieht, ist Elisas (25) Fachgebiet. Sie kennt OP-Abläufe in der Klinik im Ruhrgebiet, in der sie arbeitet, auswendig. Bestenfalls weiß sie, welches Instrument der:die Operateur:in benötigt, noch bevor danach verlangt wird. Während routinierter Eingriffe unterhalten sich die Operierenden: über die Arbeit, das Wetter, alles Mögliche. Und sie tratschen – über eine neue Kollegin, die kürzlich geheiratet hat. Aber irgendwie sei noch niemand so richtig warm mit ihr geworden, die Kolleg:innen nennen sie seltsam. Das finale Urteil fällt der Operateur: „Für’s Bett langt’s, aber am OP-Tisch taugt sie nichts“. Eine degradierende, sexualisierende Aussage, die so nicht getroffen worden wäre, hätte es sich bei der Kollegin um einen Mann gehandelt, sagt Elisa.
Auf ihre Erfahrungen mit Sexismus im Pflegeberuf angesprochen, muss sie kurz überlegen – doch dann fallen ihr nach und nach immer mehr Momente und Erfahrungen ein. Regelmäßig werde man am OP-Tisch übergriffig angesprochen, berichtet Elisa. Ein Arzt fragte sie einmal, ob sie eine Beziehung führe oder schon einmal eine geführt habe. Als sie das verneinte, forderte er eine Begründung ein. Sie war überfordert. Reflexhaft reagierte sie, weil sie keine unangenehme Stimmung erzeugen wollte – und weil man während einer OP nicht einfach gehen kann. Dass Kolleginnen wegen übergriffiger Ärzte die Abteilung wechseln, passiere leider nicht selten.
Wegen der extrem hierarchischen Strukturen in Krankenhäusern bleibt Mitarbeiter:innen oft nichts anderes übrig: „Was soll man schon machen als Pflegekraft gegen einen Chefarzt?“, fragt Elisa und klingt dabei, als habe sie schon fast resigniert.
Das Problem sitzt tiefer
Ein großes Problem ist aber nicht nur, dass sexualisierte Gewalt offenbar zum Arbeitsalltag von Mitarbeiterinnen im Gesundheitswesen gehört, sondern auch der gesellschaftliche Umgang damit. Zwar haben Betroffene nach dem Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz ein Beschwerderecht, ein Leistungsverweigerungsrecht und den Anspruch auf Entschädigung und Schadensersatz. Auch ist der Arbeitgebende dazu verpflichtet, Beschwerden zu prüfen und Betroffenen das Ergebnis mitzuteilen – nur wird dieses Angebot kaum genutzt.
Das liegt daran, dass wir gesamtgesellschaftlich zu wenig über Sexismus lernen, die eigenen Rechte und Möglichkeiten nicht kennen. So wird Frauen von klein an eingebläut, körperliche Übergriffe seien ein Kompliment. Gleichzeitig wird Männern die Fähigkeit, ihre Gefühle zu kommunizieren, schlicht von Anfang an aberkannt. Sexualisierte Gewalt ist Produkt von einer Sozialisierung und Erziehung von Männern zu Empathielosigkeit und damit bereits in binären Gender-Stereotypen angelegt, wie die Kulturwissenschaftlerin und Autorin Mithu Sanyal in ihrem Buch „Vergewaltigung“ eindrücklich zeigt.
Langfristig bedeutet das, dass bereits in der Erziehung von Kindern angesetzt werden muss, um patriarchales Anspruchsverhalten gegenüber Frauen gar nicht erst zu erlernen. Kurzfristig können Frauen jedoch bloß beim Umgang mit sexistischen Strukturen und Verhaltensweisen unterstützt werden.
Als eine Mitschülerin von Mira damals in der Berufsschule berichtete, dass sie von einem Patient angegrapscht wurde und ihr Chef dazu bloß gesagt hatte, sie solle sich nicht so haben, stand ihr Lehrer ihr bei. Er machte ihr klar, dass dieser Umgang nicht in Ordnung sei, auch wenn einem anderes vermittelt wird. „Ich glaube, dass es mir für meine spätere Berufslaufbahn viel mitgegeben hat, in diesem Moment zu hören, dass so etwas nicht in Ordnung ist. Dass wir uns wehren dürfen, dass wir das anzeigen dürfen. Was dann bei diesen Anzeigen wirklich rumkommt, ist natürlich leider nochmal eine ganz andere Geschichte.“