Von „Klasse“ reden war lange ziemlich out. Seit den 1990er Jahren ist der Klassenbegriff immer mehr aus Debatten und Politik verschwunden. Die neoliberale „Jede*r kann es schaffen“-Logik und Veränderungen am Arbeitsmarkt haben dazu geführt, dass sich die Meinung verbreitete, Klassengegensätze gäbe es nicht mehr. Schaut man genauer hin, steckt die eigene Klasse jedoch tief drin im eigenen Selbst. Sie steckt hinter Ängsten, Hoffnungen, Möglichkeiten und Erwartungen. Klasse bestimmt das Leben auch noch, wenn man vermeintlich den „Aufstieg“ geschafft hat.
Ziele im Leben ändern sich oft. Hätte man mich als Kind gefragt, was ich werden will, hätte ich vermutlich wie viele Kinder Astronaut oder Feuerwehrmann gesagt. Fragte man mich als Jugendlicher, was im Zuge von Berufsvorbereitungen an der Realschule oft vorkam, antwortete ich: Informationselektroniker. Ein klassischer Ausbildungsberuf, was denn auch sonst? In der neunten Klasse kam für eine verpflichtende Beratung eine Mitarbeiterin des Jobcenters an die Schule. Ihr Ziel: Jede*r Schüler*in am Ende einen Tipp für einen Ausbildungsberuf an die Hand geben, den man nach der zehnten Klasse direkt beginnen kann. Andere Optionen gab es nicht. Abitur? Nee lass mal. Studieren? Das schaffst du nicht.
Kurz vor Ende der Schule wollte ich dann aus Trotz doch das Abitur versuchen. Die Chancen standen schlecht. Die erste Schule, auf die ich mich bewarb, lehnte mich ab. Auf den letzten Drücker konnte ich dann doch noch eine Schule finden.
Springen kann nur, wer keine Angst hat zu fallen
Später, 2020 in Hamburg: Ich stehe kurz vor dem Masterabschluss. Vor einigen Jahren hätte ich es nicht für möglich gehalten, soweit zu kommen. Im näheren Familienumfeld hatte fast niemand Abitur gemacht, geschweige denn studiert. Ohne das Stipendium, das ich mit viel Glück bekam, wäre das Studium vermutlich schnell zu Ende gewesen. Das Geschichts-Studium war eher Mittel zum Zweck: einen Hochschulabschluss zu erreichen, um mehr Berufsmöglichkeiten zu haben, klang erst mal nach einem guten Plan. Vielleicht dann ja doch noch ein Lehramt hinterher schieben. Wissenschaft als Berufsfeld war damals viel zu abstrakt, als dass ich mir das hätte vorstellen können.
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Dann machte das Studium der Geschichtswissenschaft aber tatsächlich Spaß und ich war überraschend gut. Zwölf Semester später der Master in greifbarer Nähe und jetzt? Der logische Schritt ist wohl die Promotion. Wissenschaft gefällt mir und so schlecht sehen meine Noten auch nicht aus – also los. Nur wie eigentlich? Die Internetseiten der Universitäten geben nicht viel her, im familiären Umfeld weiß niemand was, im Freundeskreis auch nicht. Den meisten angehenden Promovierenden geht es nicht so: Laut dem Hochschulbildungsreport 2020 erreichen Arbeiter*innenkinder einen Doktortitel zehn Mal so selten wie Akademiker*innenkinder.
Das ist kein Zufall: Der Soziologe Pierre Bourdieu hat mit seinem Konzept der Kapitalsorten versucht, die Position eines Menschen in der Gesellschaft zu verorten. Je mehr Kapital eine Person hat, desto mehr Möglichkeiten, mehr Macht in der Gesellschaft. Dabei erkennt Bourdieu auch ein soziales Kapital. Damit meinte er die Unterstützung, die aus der Zugehörigkeit zu einer Gruppe entsteht: Komme ich aus einer Familie des Bildungsbürgertums, kann mir mein Umfeld helfen, mich an der Uni zurecht zu finden. Mir fehlt dieses Kapital. Ich wusste nicht, welche Fächer man wofür studiert, welche Unis besonders gut sind oder wie man sich „einschreibt“.
Kinder von Eltern mit Hochschulabschluss bringen also das nötige soziale Kapital bereits mit. Ich wiederum muss versuchen, dieses fehlende Kapital irgendwie zu kompensieren, also fragte ich alle Doktoranden, die ich finden kann, wie man dazu kommt zu promovieren? Die Antwort fast immer: „Ja ich bin da dann irgendwie so reingeraten.“
Wie jetzt? Reingeraten? Ich höre oft, man habe sich gar nicht so Gedanken gemacht. Irgendwann habe irgendein Prof dann mal gesagt, man solle doch promovieren und die Stelle oder das Stipendium kamen dann irgendwann irgendwie. Aber, denke ich mir, wer zahlt die Miete während ich darauf warte, dass ich irgendwie so in die Promotion reinstolpere? Bafög oder Stipendium sind dann weg, ein nahtloser Übergang ist nicht möglich. Je nach persönlichem Glück und Timing muss man zwischen Studien-Ende und Promotionsbeginn ein halbes oder volles Jahr überbrücken, das man damit verbringt, Stipendien-Anträge und Bewerbungen zu schreiben. Für viele angehende Doktorand*innen kein Problem. Fast alle, mit denen ich gesprochen habe, hatten sich kaum Gedanken gemacht. Sie hatten keine Angst, die Miete nicht zahlen zu können, keine Angst „rauszufallen“, denn da war immer ein familiäres Netz, das sie weich auffangen würde.
Die Angst kommt manchmal als brennend heißer Gedanke
Dank meines Stipendiums konnte ich die Angst, zu fallen, etwas ausblenden. Aber sie ist immer da. Sie ist da, wenn das Konto am Ende des Monats leer ist, sie ist da, bei jedem Behördengang, bei dem Antrag auf Wohngeld und bei jeder Rechnung, mit der ich nicht gerechnet habe. Bei jedem Cent, den ich bekomme, habe ich das Gefühl, ihn eigentlich nicht verdient zu haben und dass das Ganze bestimmt bald auffliegt. Die Angst kommt manchmal ohne ersichtlichen Grund nachts oder als brennend heißer Gedanke unter der Dusche. Ganz weg ist sie nie. Kann ich es wirklich schaffen? Was ist, wenn nicht?
Die Angst zu fallen findet immer neue Wege in den Alltag. Sie ist die Angst vor dem Kontrollversuch, denn was dann? Was passiert, wenn ich diesen Antrag verpasse? Was passiert, wenn ich nicht sofort auf diese Mail antworte? Sie spitzt sich zu irrationalen Ketten: Ich stehe vor einer Postfiliale und diese Post hat zu, Mist. Der Brief geht dann wohl erst morgen raus. Dann kommt er bestimmt nicht mehr an und in meinem Kopf beginnt es zu rattern bis es ganz klar ist: die einzig logische Konsequenz daraus, dass diese eine Postfiliale jetzt zu hat ist, dass alles zusammenbricht, ich die Miete nicht zahlen kann, aus der Wohnung fliege und mein Studium abbrechen muss.
Diese Angst ist der größte Unterschied zu vielen Kolleg*innen und Kommiliton*innen. Ich kann mit ihnen bei einem Glas Wein oder einem Bier über Marx oder Foucault diskutieren, ich kann spannende Vorlesungen besuchen, ins Theater gehen und als studentische Hilfskraft einen privilegierten Blick auf die Universität bekommen. Ich kann mich in vielen Punkten angleichen, aber in diesem einen Punkt wohl nie.
Doch nicht hinter sich gelassen
Mit diesen Erfahrungen bin ich nicht allein. Immer mehr Menschen sprechen über ihre persönlichen Erfahrungen und der Wiederentdeckung ihrer Klasse. Meist sind sie, so wie ich, dieser Klasse vermeintlich erwachsen. Die Eltern waren arbeitslos, Arbeiter*innen, oder erste oder zwei Generation der sogenannten „Gastarbeiterfamilien“. Die Kinder – wie ich – haben einen „Aufstieg“ hinter sich. Erst diese Distanz ermöglicht es, gehört zu werden. Wie Anna Mayr in ihrem großartigen Buch „Die Elenden“ festgestellt hat, hört niemand gerne den Arbeitslosen zu – das Elend kommt dann doch zu nah – die studierten Kinder der Arbeitslosen lädt man jedoch gerne in Talkshows und Feuilletons ein: Über Armut reden wir gerne, mit den Armen eher nicht. Didier Eribon hat dazu in „Rückkehr nach Reims“ passend formuliert: „Die Klasse, die […] idealisiert und heroisiert wird, unterscheidet sich von den Individuen, aus denen sie tatsächlich oder potenziell besteht. Und der direkte Kontakt zu all dem, was diese Klasse ausmachte und immer noch ausmacht, wurde mir zunehmend unerträglich.“
Eribon beschreibt, wie er mit dem „Aufstieg“ aus seiner Klasse, auch einen bestimmenden Zug der Klasse angenommen hat, in die er migriert ist: Den Klassenhass nach unten. Die eigene Abstiegsangst sorgt dafür, dass man sich mit dem Elend am Boden der Gesellschaft nicht auseinandersetzen will. Dies würde bedeuten, dass man sich mit dieser Angst konfrontieren müsste. Die neoliberale Gesellschaft zerrt allerdings von genau dieser Furcht. Denn sie ist es, die uns dazu bringt, uns so weit zu verkaufen, dass nichts mehr von uns übrig bleibt als unsere Arbeitskraft.