Oft bewegen sich Gespräche mit meinen Freund*innen zwischen lautstarker Selbstreflexion und schmerzhaften Selbstzweifeln. Wir schwanken zwischen gegenseitigem Empowerment und unserer hemmenden Sozialisation, die uns schonungslos zu verfolgen scheint. Wir sind sexistisch geprägt und haben ein feministisches Bewusstsein.
Wir, das sind selbstbewusste und aufgeklärte, sich stets woke¹ gebende millennials, die ihre -ismen reflektieren und diskriminierungssensible Sprache selbstverständlich anwenden. Gleichzeitig sind wir natürlich die Kinder unserer Eltern, die uns die Prägung ihrer Zeit mitgegeben haben. Geboren um die Jahrtausendwende, lesen wir Margarete Stokowski und erlebten #metoo, während Dr. Sommer als unsere Aufklärungsinstanz fungierte und uns Häme über Britney Spears’ Cellulite auf den Titelseiten der Klatschblätter verfolgte. Paradoxe Prägungen, die widersprüchliche Identitäten schaffen.
Doch nicht nur meine Generation ist von diesem Dilemma betroffen. Seit jeher mussten Generationen, die um politische Befreiung kämpften, diese Zwiespältigkeiten aushalten: Von einem rückständigen System geprägt zu sein, von dem man sich gleichzeitig zu befreien versucht. Ob es um Sexualität und Liebe, um Konflikte im Freund*innenkreis oder um die Arbeit geht, unsere feministische Identität scheint von einer schmerzhaften Zweigliedrigkeit geprägt. Die kämpferische beißt sich immer wieder mit der betroffenen Perspektive. Wir wissen, dass das Verhalten unseres Kollegen sexistisch war und wir lautstark etwas entgegnen sollten. Aber bleiben in der Situation oft voller Unsicherheit und Selbstzweifel still. Wir erkennen übergriffiges Verhalten, aber weisen es nicht immer zurück. Wir kennen unsere Grenzen und schaffen es doch zu selten, sie zu ziehen.
Diese Ambivalenzen sorgen für Konflikte und Frustration. Es tut weh, seine sexistischen Prägungen zu erkennen und sich dennoch immer wieder in Situationen wiederzufinden, in denen man nicht umfassend genug reagiert, nicht die richtigen Worte findet. Unter meinen Freund*innen folgt einem gut gemeinten Rat oft der Zusatz: “…aber ich hab da auch gut reden, ich würde es selbst nicht besser machen.” Ich liebe meine Freund*innen dafür, dass sie lautstarke Reden darüber schwingen, dass ich diesen einen Bekannten endlich auf seine unangenehmen Berührungen aufmerksam machen solle – und weiß doch ganz genau, ich werde ihnen sehr bald einen ähnlichen Monolog halten.
Bei anderen ist es klarer
Es ist nicht leicht, überzeugte und überzeugende Feministin zugleich zu sein. Wir erkennen die Sozialisierung im Verhalten anderer sofort und benennen die Muster darin mit Leichtigkeit. Ich identifiziere die starken Selbstzweifel meiner Freundin, ob sie ihren neuen Job gut macht, sofort als Hochstapler-Syndrom und ermutige eine andere dazu, sich aus einer toxischen Beziehung zu lösen. Mit gleicher Klarheit an sich selbst heranzutreten, scheint jedoch weniger leicht.
Auch im cis-männlichen Teil meines Freund*innenkreises existieren diese Konflikte. Ich kenne Freunde, die es sich angewöhnt haben, jedem zweiten Satz eine Entschuldigung dafür anzufügen, möglicherweise zu dominant oder vorlaut gewesen zu sein. Bisher hält es sie selten davon ab, dominant und laut zu sein. Ihr Verhalten zu erkennen und sich im Anschluss dafür zu entschuldigen, haben die meisten von ihnen aber immerhin schon gelernt.
Dazu kommt, dass wir von Frauenfeindlichkeit Betroffenen selbst sexistisch agieren können. Wir alle sind in diesem patriarchalen System sozialisiert und reproduzieren daher stets auch dessen Machtverhältnisse. Frauen bewerten andere Frauenkörper häufig mit dem gleichen abwertenden Blick wie man ihn von cis Männern erwartet. Wir sehen uns in Konkurrenz zu anderen Frauen oder schließen Frauen und Menschen, die sich nicht als cis definieren, aus Räumen aus.
Auf der einen Seite steht unsere Angst, nicht genug zu sein. Unsere vermeintlich irrationalen Emotionen und unsere Körper, unter dem permanenten Druck bewertet zu werden. Die hormonelle Verhütung, sexualisierte Übergriffen, Neid und Konkurrenzdruck, Regelschmerzen, Respektlosigkeit und Herabwürdigung. Demgegenüber treten die zahlreichen, immer größeren, lautstarken FLINTA²-Demos und wachsende Safer Spaces, feministische Social-Media-Bubbles, Nura und Ebow, Kritische-Männlichkeits-Treffen und sex-positive Veranstaltungen, wachsenden Awareness-Teams und wachsender Awareness im privaten Umfeld. Die Welt da draußen schwankt irgendwo zwischen den Leiden der Unterdrückung und dem Elan und der Wut intersektionaler Feminist*innen. Es scheint, als stünde man auf der Schwelle zur Emanzipation, die Fesseln noch spürbar, die Befreiung schon greifbar.
Auf der Schwelle der Emanzipation
Schon 1929 schrieb Virginia Woolf in ihrem Werk “Ein Zimmer für sich allein” davon, wie sie während des Schreibens aufgescheucht worden sei, da sie auf einer Wiese lag, dessen Betreten Frauen verboten sei. Den Vortrag dazu hielt sie in Cambridge, am damals ersten College Großbritanniens, das Frauen als Studierende zuließ.
Zu den inneren Widersprüchen kommen die verschiedenen Diskriminierungserfahrungen, denen man unterschiedlich begegnen muss. Auch bei unseren Bekannten und Freund*innen sollten wir das auf dem Schirm haben. Denn als sich in den 1960er Jahren die zweite Frauenbewegung formte, bezogen weiße Feministinnen ihren Feminismus wieder nur auf sich und ihre Probleme. Schwarze Frauen und Frauen of Color wurden dabei ausgeschlossen. Während zahlreiche weiße Frauen lautstark ihr Recht auf Selbstbestimmung forderten, mussten Women of Color zusätzlich zum Frau sein in einer sexistischen Welt noch ganz andere Kämpfe führen. Einer der Gründe, warum das Combahee River Collective 1977 die mehrdimensionale Diskriminierung Schwarzer Frauen anprangerte und Kimberlé Crenshaw 1989 den Begriff „Intersektionalität“ prägte. Auch heute setzt sich der vielschichtige Kampf um die Beachtung und Einbeziehung von Intersektionalität fort.
Immerhin schlechte Feministin sein
Es ist manchmal kompliziert, und innere Konflikte bedeuten dabei nicht, von seinen Überzeugungen abzukommen. Politisiert und aware zu sein, heißt eben nicht, seine erkämpften Prinzipien bereits komplett verinnerlicht zu haben. Das macht eigene Widersprüchlichkeiten zu einer logischen Konsequenz persönlicher Entwicklungsprozesse.
Sich selbst Fehler und Widersprüche zuzugestehen ist ein wichtiger Schritt um den eigenen Lernprozess voranzutreiben. Wie die Schriftstellerin Roxane Gay in ihrem Essay bad feminist schon benannte: „Like most people, I’m full of contradictions (…) I would rather be a bad feminist than no feminist at all.“ Gay schreibt in ihrem Werk darüber, dass sie gerne die Vogue liest, wie gerne sie sich von Männern etwas in ihrer Wohnung reparieren lässt und sie sich ihre Beine rasiert. Sie gesteht sich also ein, Dinge zu lieben, die als unemanzipiert und unfeministisch gelten. Damit distanziert Gay sich bewusst von dem Perfektionsanspruch, den sie selbst lange an Feminist*innen gestellt hatte. “Schlechten Feminismus” sieht sie als ihren Weg, sich selbst und sich selbst in ihrer Rolle als Feministin zu begegnen. Ein interessanter Ansatz für all diejenigen, die es nicht immer schaffen, ihre Militanz hochzuhalten. Oder aber für die, die noch nicht sicher genug darin sind, sich nicht nur aus der Ferne für andere, sondern sich auch für sich selbst lautstark einzusetzen.
Prozess statt Scheitern
Dieser Text ist kein Plädoyer für konsequenzloses, unsensibles Verhalten. Idealerweise sollten wir eigene Widersprüche nicht als Scheitern, sondern als Wachstum verstehen. Sensibel zu handeln und ein politisch aufmerksames Verhalten an den Tag zu legen, ist ein konstanter Prozess, der bestenfalls niemals endet.
Doch dabei bedarf es auch viel gegenseitiger Aufmerksamkeit. Nicht alle Menschen haben die gleichen Kapazitäten, ihr tägliches Handeln aus einer politischen Perspektive zu reflektieren und nicht alle verfügen über die Ressourcen, sich problematischem Verhalten in den Weg zu stellen. So wie es ein weißes Privileg ist, sich mit der Polizei anzulegen, bleibt auch die Konfrontation mit dem sexistischen Chef ein Privileg von Frauen einer bestimmten Einkommensklasse. Politischer Aktivismus braucht Kapazitäten, die etwa eine alleinerziehende Mutter nicht immer aufbringen kann.
Daher ist es in Ordnung und wichtig zu akzeptieren, dass wir Fehler machen werden – und dabei je nach Kapazität uns weiterhin bemühen. Denn ein kollektiver, rücksichtsvoller Umgang innerhalb einer Gemeinschaft entsteht auch dadurch, wenn wir uns alle konstant selbst beobachten.
¹ Der Begriff “woke” (eng. “erwacht”) bezeichnet ein Bewusstsein und eine hohe Sensibilität für soziale Ungerechtigkeiten und Diskriminierungen, sowie ein entsprechendes Handeln dagegen.
² FLINTA: Frauen, Lesben, Inter, Nonbinary, Trans, Agender