Während seines Studiums der Politologie in einer kleinen Unistadt in der Mitte von Deutschland war David der Vorzeige-Politkader: Bei jeder Aktion dabei, auf jedem Plenum, Kneipenabend und Vortrag anzutreffen. Über Jahre hinweg engagierte er sich in der linksradikalen Szene. Nach dem Studium zog er nach Hamburg und anstatt sich direkt weiter zu organisieren, verschwand David von der Bildfläche. Was war passiert? Der FC St. Pauli war passiert.
Viele Menschen, die in kleineren Städten aufgewachsen sind und dort Antifa-Politik gemacht haben, ziehen in Metropolen und hören dort auf, sich zu organisieren. Das liegt sicher auch am größeren Angebot vor Ort, das das Gefühl vermittelt, dass der eigene politische Aktivismus nicht so dringend benötigt wird. So auch David. Für ihn begann die Lohnarbeit, er zog mit seiner Freundin zusammen und die Prioritäten verschoben sich. So weit, so häufig verbreitet, so schade. Doch Menschen wie David, die nach Hamburg ziehen, ans Millerntor gehen und auswärts fahren, können sich immer noch einreden, linksradikal zu sein und emanzipatorische Arbeit zu leisten. Immerhin stehen sie doch jeden Samstag in der Kurve, an der Seite des linken Traditionsvereins. Der Rückzug ins Private lässt sich so vor sich selbst und anderen rechtfertigen.
Keine Frage: Sankt Pauli der beste Fußballverein
Keine Frage: Innerhalb der bundesdeutschen Fußballlandschaft der Herren ist der FC Sankt Pauli der beste Fußballverein. Die Ultras Sankt Pauli machen immer wieder Choreos und Kampagnen mit linken Inhalten und gegen Rassismus, wie die Organisation von antirassistischen Fußballturnieren, und inhaltliche Veranstaltungen in den Fanräumen. Doch konkrete organisierte Politik, wie die Teilnahme an Demonstrationen, ist eben etwas anderes als eine Choreo in einem Stadion, in dem sich ohnehin alle Gäste des Heimvereins als irgendwie links definieren.
Während einer der letzten Kundgebungen des lokalen „Merkel-muss-weg“-Ablegers, „Michel wach endlich auf“, war Heimspiel und somit beteiligten sich deutlich weniger Menschen an Blockaden und Gegendemo. Aber es gab ja eine Soli-Tapete im Stadion, das muss dann genügen.
Die Frauen*quote ist in der Süd so hoch wie in kaum einer anderen Kurve. Doch auch diese vermeintlich emanzipatorische Fanszene scheitert immer wieder an ihren eigenen Ansprüchen. Weiterhin sind Männer tonangebend im Stadion und die Ultras sind straff hierarchisch durchorganisiert. Dies zeigt sich zum Beispiel in der Süd, wenn dort Menschen angegangen werden, die nicht „enthusiastisch genug“ mitgesungen oder -geschrien haben.
Sobald die Saison losgeht, wird wieder klar, wo die Prioritäten liegen
In der unvermeidlichen Auseinandersetzung mit dem Erzfeind Hamburger SV dominiert das Mackertum und die Verteidigung der „Ehre“. Sogar der Hamburger Innensenator Andy Grothe, maßgeblich verantwortlich für den Polizeieinsatz während des G20 Gipfels, ist Mitglied im Verein und regelmäßiger Stadionbesucher.
Welches Potential bei den Ultras schlummert, zeigt sich immer wieder bei Kampagnen und Mobilisierungen, die in der Sommer- oder Winterpause der Fußball-Saison stattfanden. Auch gab es schon häufig Demonstrationen im Anschluss an ein Heimspiel, die vom Millerntor aus gestartet sind und bei denen der Mobilisierungseffekt deutlich höher war als bei anderen Demonstrationen. Aber sobald die Saison losgeht, wird wieder klar, wo die Prioritäten der meisten Fans des FC St. Pauli liegen und wie die Kapazitäten verteilt werden: Der Fußball kommt vor der Politik.
Am Millerntor werden Kapazitäten verschenkt
Am Millerntor werden Kapazitäten gebunden und verschenkt, die auf der Straße, gegen den Rechtsruck, dringend benötigt werden. Es bleibt zu hoffen, dass die Fans des FC Sankt Pauli, wenn es drauf ankommt, an den Start kommen werden, so wie die Ultras in Istanbul während der Gezi-Proteste. Dann könnten wir endlich alle profitieren von der Erfahrung, die die Fans bei Auseinandersetzungen am Rande von Fußballspielen gesammelt haben.
So schön die Choreos der Ultras sind und die Stimmung und das linke Selbstverständnis am Millerntor: Stellen wir uns vor, dass die Kapazitäten, Kreativität und Energie, die in der Fanszene des FC Sankt Pauli steckt, in die linke, organisierte Szene der Stadt übertragen würden. Dass alle Menschen wie David, die jeden zweiten Samstag ins Stadion pilgern, an genau diesem Samstag auf einer Demo in der Stadt unterwegs wären, ein Plenum besuchen, eine Party vorbereiten, für eine KüFa kochen würden. Der Stadtteil Sankt Pauli, die ganze Stadt Hamburg, wäre nicht wiederzuerkennen.