Nach den Ereignissen der letzten Woche haben sich vielleicht einige wenige schon mal die Frage gestellt: Wie ist das eigentlich, Antifa in Chemnitz zu sein? Für all jene mag dieser Artikel einige Antworten parat halten. Für alle, die sich die Frage noch nicht gestellt haben: besser spät als nie und spätestens jetzt stellt ihr sie Euch ja hoffentlich.
Chemnitz ist eine Stadt, die im Normalfall nur mäßige bis keine Aufmerksamkeit überregionaler oder gar internationaler Medien erhält. Momentan jedoch sind die Ereignisse von Chemnitz in aller Munde. Viel wurde seit den Hetzjagden am Sonntag und Montag vor knapp zwei Wochen über die Zustände vor Ort berichtet, viele Expert*innen haben sich in verschiedenen Analysen geübt. Doch nur wenige ließen diejenigen zu Wort kommen, die unmittelbar von Gewalt betroffen sind.
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Wer aber könnte eine solche Frage besser beantworten als eine lokale Person, die sich dort seit Jahren gegen Rechts engagiert und die Szene kennt?
Neben der drängenden Frage nach den Ursachen für die Härte der Ausschreitungen in Chemnitz, muss auch die Frage danach gestellt werden, ob diese tatsächlich so überraschend über die Stadt „hereinbrachen“ oder ob sich hier nicht seit langer Zeit etwas zusammengebraut hat.
Svenja* hat einige Jahre in Chemnitz gelebt und war dort in verschiedenen antifaschistischen Zusammenhängen organisiert. „Dass in Chemnitz Menschen, die offen als Antifaschist*innen erkennbar sind oder die für Migrant*innen gehalten werden, bepöbelt, nicht selten auch tätlich angegriffen werden, das ist nicht neu. Neu ist, dass ein Mob dieser Größe durch die Stadt zieht.“ Svenja selbst sind Pöbeleien von Rechten nicht fremd, Schlimmeres sei ihr jedoch zum Glück noch nicht zugestoßen, sagt sie.
Antifa sein heißt hier vor allem: einstecken können.
„In Chemnitz kann kaum die Rede davon sein, dass eine progressive Stadtbevölkerung die Mehrheit bildet. Das politische Engagement hängt in einer solchen Stadt an einigen Wenigen. Auf verschiedenen Plena trifft man selten verschiedene Menschen und der Großteil des außerparlamentarischen politischen Engagements hängt an überarbeiteten Einzelpersonen“, sagt Svenja. Und auch der aktivistische Alltag sei ein gänzlich anderer als der, den man aus anderen Großstädten gewohnt sei. Durch die permanente Feuerwehrarbeit, die die Antifa leistet, bleibt wenig Zeit und Energie für strategische oder gar theoretische Auseinandersetzungen – das merke man der Szene an. Besonders das „Bündnis Chemnitz Nazifrei“ ist ein wichtiger Akteur, gibt es doch in Chemnitz nicht eine linksradikale Gruppe. Die Szene besteht vor allem aus wenigen Hausprojekten und dem Alternativen Jugendzentrum Chemnitz (AJZ), in dem Ende Oktober auch der „Antifaschistische Jugendkongress (JuKo)“ stattfinden wird, sowie einigen wenigen Kulturprojekten. Zusätzlich zu den schwachen lokalen Strukturen leidet die linke Szene in Chemnitz unter einer Abwanderungsbewegung in die größeren Städte Leipzig und Berlin. Die 20 bis 30 Jährigen, Menschen also, die tendenziell politisch aktiv werden, fehlen massiv. Gründe dafür sieht Svenja vor allem in der Gefahr, der man sich als offen auftretende Antifaschist*in aussetzt, als auch in der permanenten Frustration, die Aktivismus unter Chemnitzer Verhältnissen bedeutet. Ob Angriffe auf Hausprojekte, alternative Läden und Cafés, Pöbeleien oder (schwere) tätliche Angriffe – das alles ist in Chemnitz keine Seltenheit. „Wer offen als Antifaschist*in auftritt, begibt sich wie ein Reh ins Scheinwerferlicht“, sagt Svenja. Es seien nicht nur die Nazis, die eine Gefahr darstellten, auch das subjektive Gefühl, dass die Polizei mit Repressionen gegen Linke arbeitet, prägt den aktivistischen Alltag. Das zeigte sich in diesem Jahr vor allem im Vorgehen der Einsatzkräfte zum alljährlichen Nazi-Event, dem 1. Mai. Mit einem massiven Aufgebot an Einsatzkräften, Wasserwerfern, Reiterstaffeln und zwei Helikoptern taten sie vor allem eins: die Antifaschist*innen, die sich gegen die Nazis stellten, drangsalieren.
Das Konzert vom Montag verzerrt die realen Verhältnisse in der Stadt
Im Rahmen der Kampagne wie auch dem gleichnamigen Hashtag „Wir sind mehr“ gaben am vergangenen Montag allerlei namhafte Künstler (wieso spielten da bis auf Nura eigentlich nur Typen?!) kostenlose Konzerte am Karl-Marx Monument, dem „Nischel“. Die Idee zu den Auftritten hatte im Internet bereits einige Kritik geerntet. Wiederkehrender Vorwurf war dort vor allem, dass die Gefahr besteht, ein falsches Bild der Stadt zu erzeugen. Zwar mag die intendierte Außenwirkung – beispielsweise Bilder einer bunten, progressiven Menschenmenge einzufangen oder Menschen für politisches Engagement zu begeistern – zunächst eine Gute sein. Die Gefahr jedoch, dass die realen Verhältnisse in der Stadt durch derartige Kampagnen übersehen oder verzerrt werden, die ist allgegenwärtig. Das soll kein Spielverderberinnen-Move sein, aber wer sich mit der alltäglichen Situation in Chemnitz auseinander gesetzt hat, der*dem wird bewusst, warum dieser Gedanke so wichtig ist.
Was also bringt der ganze Trubel?
Auch Marvin* ist in Chemnitz seit Jahren politisch aktiv und fand die Idee eines Großevents prinzipiell gut. Hätte er sich jedoch wünschen können, wie das Ganze gestaltet sein sollte, hätte er es anders gemacht. „Ein Konzert mit Künstler*innen, die außschließlich aus Chemnitz kommen, hätte ich gut gefunden. Daran anschließend wäre eine Podiumsdiskussion mit lokalen Akteur*innen super gewesen. Beispielsweise mit dem Vorstandsvorsitzenden des Chemnitzer Fußballclubs (CFC), der sich jüngst in einer Rede von der rechten Fanszene seines Vereins distanziert hat. Solche Leute, die haben es begriffen, die müsste man zu Wort kommen lassen.“
Besonders die wenigen Personen, die sich vor Ort seit Jahren den Buckel krumm machen, waren wegen des Konzerts einigermaßen skeptisch. „Man konnte hier nicht darauf hoffen, dass es tatsächlich zu ganz deutlichen politischen Statements kommt. Bis auf einige wenige Künstler*innen ging es den meisten vor allem um eines: ums Musik spielen. Wo aber blieben die Forderungen nach politischer Veränderung, adressiert an die Stadt Chemnitz oder an den Ministerpräsidenten Kretschmer? Das wäre doch wirklich wichtig gewesen“, sagt Marvin. Einzig das „Bündnis Chemnitz Nazifrei“ fand im Vorfeld eine deutliche Sprache, nahm in der Analyse der Verhältnisse kein Blatt vor den Mund und forderte neben langfristiger Organisierung vor allem auch politische Konsequenzen seitens der Stadt Chemnitz, wie auch der sächsischen Landesregierung. So benannten sie auch klar das Fehlverhalten und die Mitschuld der sächsischen CDU.
Aber was macht man denn jetzt gegen die Scheiße?!
Es handelte sich bei dieser Veranstaltung um Symbolpolitik, das muss klar gesagt sein. Zwar ist das nicht immer schlecht und besonders das damit gesendete Zeichen der Solidarität ist etwas Positives, doch führt es im Fall Chemnitz dazu, dass eine Realität verklärt wird, die nicht verklärt werden darf, denn sie ist es, die es wirklich zu thematisieren, beobachten und letztlich zu verändern gilt. Das alltägliche Leben von vermeintlichen Migrant*innen und Linken in Chemnitz wird sich durch den Montag nicht verändern. Sie gehen weiter nur mit einem mulmigen Gefühl aus dem Haus, haben sicherlich auch Angst, bis sich tatsächlich in Sachsen etwas ändert. Hinsichtlich der Nachwirkungen eines solchen Events sind sich deshalb auch Svenja und Marvin einig: Zwar wurden einige Leute hinter dem Ofen hervorgelockt, die sonst wohl nicht auf die Straße gegangen wären. Langfristiges politisches Engagement jedoch, wie es in Chemnitz von Nöten wäre, das wird wohl leider kein Ergebnis sein.
Dennoch: das „Bündnis Chemnitz Nazifrei“ läd am 13.9. zum offenen Bündnistreffen ins Lokomov – da spielt die Musik!
*Namen nachträglich geändert